Pawlow-Haus und Gerhardts Mühle als Erinnerungen an die verheerenden Folgen des Zweiten Weltkriegs

Anna Cherepova , Moskau, Russland

15+ Jahre

90 Minuten

Zusammenfassung: Die Idee dieser Unterrichtseinheit ist es, die zerstörerischen Folgen eines jeden Krieges anhand von Gedenkstätten aufzuzeigen. Auf jeden materiellen Verlust folgen noch größere und bedeutendere menschliche Verluste. Am Beispiel vom Pawlow-Haus und Gerhards Mühle in Wolgograd, Russland, die fast zwei Monate lang verteidigt wurden, können die Schüler*innen über das Wesen des Heldentums diskutieren. Die Schlacht um Stalingrad, eine der blutigsten und brutalsten Schlachten in der Geschichte der Menschheit, wurde zu einem der Schlüsselereignisse des Zweiten Weltkriegs (in Russland bekannt als der Große Vaterländische Krieg). Das Pawlow-Haus und Gerhardts Mühle, deren Verteidigung Teil der Schlacht um Stalingrad war, sind zu Symbolen der Schlacht geworden. Während der Schlacht wurde der Befehl Nr. 227 „Keinen Schritt zurück!“ erlassen, der zu widersprüchlichen Einschätzungen und schrecklichen Folgen führte. Die Betrachtung derselben Schlacht aus der Perspektive des Staates, der Soldaten und der Offiziere ist eine wichtige Lektion für ein multiperspektivisches Verständnis der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges.

Schlüsselfrage: Hat der Staat das Recht, weitreichende physische und menschliche Opfer zu fordern und wer sollte solche Entscheidungen treffen - die Regierung oder das Volk selbst?

Kompetenzerwerb

Die Schüler*innen werden
  • die Bedeutung der Schlacht um Stalingrad und ihren Stellenwert im Zweiten Weltkrieg kennenlernen.
  • sich mit dem Inhalt des Befehls Nr. 227 „Keinen Schritt zurück!“ und seinen Folgen auseinandersetzen.
  • zwei Arten der Erhaltung von Gedenkstätten miteinander vergleichen.
  • kritisches Denken und Einfühlungsvermögen durch das Lesen persönlicher historischer Quellen erlernen.
  • über Menschenrechte und die Rolle der Bürger*innen in Kriegs- und Friedenszeiten reflektieren.

Pädagogische Empfehlungen

Diese Unterrichtseinheit kann sowohl mit als auch ohne Besuch der Gedenkstätten durchgeführt werden.

Wenn ein Besuch möglich ist, wird davon ausgegangen, dass die Schüler*innen vor Ort mit einem Guide lernen, dass Stalingrad für die Deutschen der Zugang zu den strategischen Ölreserven der UdSSR war. Darüber hinaus wird die Geografie des heutigen Wolgograds zeigen, dass die Wolga eine natürliche Barriere war, die der sowjetischen Armee half, die Stadt zu halten und die Deutschen nicht weiter nach Osten vordringen zu lassen.

Wenn ein Besuch der Stadt und der Gedenkstätte nicht möglich ist, können die oben genannten Fakten mit Hilfe historischer Karten diskutiert werden. Die meisten Geschichtslehrbücher enthalten genügend allgemeine Informationen über die Schlacht um Stalingrad, um die wichtigsten Aspekte dieses Themas zu beleuchten.

Aktivitäten

Um sich auf die Lektion vorzubereiten, erhalten die Schüler*innen einen Handzettel, der die Schlacht um Stalingrad und ihre Bedeutung für die weiteren Ereignisse des Zweiten Weltkriegs kurz beschreibt (s. Anhang I).

Phase 1: Beobachtung und Vergleich der Gedenkstätte. 20 Minuten
In einer kurzen Sitzung besprechen die Schüler*innen die Ergebnisse ihrer Hausaufgaben mit einem Guide oder der Lehrkraft. Dann beginnt die Unterrichtsstunde mit der Betrachtung der Gedenkstätten, dem Kennenlernen ihrer Geschichte und dem Vergleich der Fotos unten.

Das Pawlow-Haus ist ein gewöhnliches vierstöckiges Wohnhaus, das sich während der Schlacht um Stalingrad in eine uneinnehmbare Festung verwandelte, die von einer Gruppe sowjetischer Soldaten 58 Tage lang gehalten wurde. Das Haus wurde als Pawlow-Haus bekannt, nach dem Namen des Oberfeldwebels, der das Kommando übernahm. Marschall V. Tschuikow schrieb in seinen Memoiren: „Diese kleine Gruppe, die ein Haus verteidigte, vernichtete mehr feindliche Soldaten, als die Nazis bei der Einnahme von Paris verloren.“
Ruinen des Pawlow-Hauses 1943, Stalingrad, UdSSR. Foto: Unbekannt, Gemeingut, Russisches Staatliches Militärarchiv, Wikimedia Commons, File:Pavlov's_House.jpg 
Moderne Ansicht vom Pawlow-Haus 2013, Wolgograd, Russland. Foto: Insider, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons, File:Дом_Павлова_03.jpg 
Die Gerhardts Mühle liegt direkt gegenüber dem Pawlow-Haus im Zentrum von Wolgograd. Während der Schlacht um Stalingrad wurde die Gerhardts Mühle zur letzten Grenze, an der die Rote Armee die Armee des deutschen Feldmarschalls Friedrich Paulus an den Zufahrten zur Wolga aufhielt. Mehrere Monate lang wurde um die Mühle gekämpft: Sie wurde mehrfach bombardiert und gesprengt, aber der deutschen Armee gelang es nicht, sie einzunehmen oder zu umgehen. Das Gebäude war 58 Tage lang umzingelt und erlitt in dieser Zeit zahlreiche Einschläge durch Fliegerbomben und Granaten. Diese Schäden sind noch heute zu sehen - buchstäblich jeder Quadratmeter der Außenwände wurde von Granaten, Kugeln und Schrapnellen getroffen und die Stahlbetonbalken auf dem Dach wurden durch direkte Treffer von Fliegerbomben zerbrochen.
Moderne Ansicht von Gerhards Mühle 2015, Wolgograd, Russland. Foto: Savin, A , CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons, File:May2015_Volgograd_img14_Gergardt_Mill.jpg 
Die Schüler*innen studieren die Fotos und/oder die Denkmäler und arbeiten in kleinen Gruppen an den Arbeitsblättern (s. Anhang II).

Phase 2: Verordnung Nr. 227 und die Voraussetzungen für ihre Veröffentlichung. 25 Minuten

In dieser Phase werden die Schüler*innen in Gruppen eingeteilt und lesen den Erlass Nr. 227 „Kein Schritt zurück!“ (s. Anhang III). Nach der Lektüre tauschen die Gruppen ihre Vermutungen darüber aus, aus welchen Gründen Josef Stalin einen solchen Befehl erlassen hat und welche Folgen dieser Befehl gehabt haben könnte. Nach der Gruppenarbeit diskutieren die Gruppen ihre Vermutungen mit der Lehrkraft und der Klasse. Diese Annahmen sollten an der Tafel notiert werden, damit alle sie sehen können. Dies wird für die nächste Phase benötigt, in der die Schüler*innen historische Quellen lesen werden, anhand derer sie die in der Gruppenarbeit aufgestellten Annahmen überprüfen können.

Phase 3: Studium der historischen Quellen. 25 Minuten
Die Schüler*innen lesen und vergleichen in Einzelarbeit die Standpunkte eines Schriftstellers, eines sowjetischen Offiziers und eines Soldaten zum Befehl 227 (s. Anhang IV). Sie sollten über die folgenden Fragen nachdenken:
  1. Welche Schlussfolgerungen und Überlegungen haben die Zeugen dieses Befehls angestellt und warum?
  2. Gibt es irgendwelche Unterschiede zwischen ihnen?
  3. Welche Folgen hatte dieser Befehl für die Soldat*innen?
  4. Vergleicht die Antworten zu 1 – 3 mit den Ergebnissen der Arbeit mit Stalins Befehl 227.
Phase 4: Abschlussdiskussion. 20 Minuten
Abschließend leitet die Lehrkraft eine Reflexionsdiskussion ein. Die Klasse sollte zwei Problemfragen erörtern:
  1. Was könnte die Menschen und Soldat*innen dazu gebracht haben, sich so verzweifelt zu opfern und die Stadt zu verteidigen?
  2. Hatte der Staat das Recht, Befehle wie den Befehl Nr. 227 zu erlassen?
Bei der Diskussion müssen Faktoren wie das totalitäre Regime, die Kriegszeit, der Faktor der Fahnenflucht, die Bedeutung der Region und die Gefahr ihrer Eroberung durch Nazi-Truppen berücksichtigt werden.

Wenn noch Zeit übrig ist, kann eine kurze Diskussion über die Rolle der Behörden und der Bürger*innen in Kriegs- und Friedenszeiten stattfinden.

Abschließend sollte die Lehrkraft ein Resümee ziehen, dessen Hauptaussage darin besteht, dass in einem Krieg oft die einfachen Menschen zu Opfern werden und der Sieg auf ihre Kosten geht. Nicht nur der Feind kann Menschen zu solchen Opfern verdammen, sondern auch die Führung des Landes selbst. So haben Stalin und die sowjetische Führung während des Zweiten Weltkriegs bei ihren Handlungen nicht immer die Interessen der eigenen Bürger berücksichtigt und stattdessen Entscheidungen getroffen, deren Folgen als grausam und menschenverachtend bezeichnet werden können. Gibt es eine moralische Rechtfertigung für solche Entscheidungen? Jeder beantwortet diese Frage für sich selbst auf unterschiedliche Weise, basierend auf seiner eigenen Weltanschauung.

Glossar

NKVD (russisch: Наро́дный комиссариа́т вну́тренних дел) - das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten. Die 1917 gegründete Behörde hatte zunächst die Aufgabe, reguläre Polizeiarbeit zu leisten und die Gefängnisse und Arbeitslager in der UdSSR zu beaufsichtigen. Sie war für die massenhaften außergerichtlichen Hinrichtungen von Bürger*innen verantwortlich und konzipierte das GULAG-Lagernetz.

Kommissar – die Position oder der Titel einer Person, die mit Autorität ausgestattet ist, oder ein Mitglied der Kommission. In diesem Fall bedeutet Kommissar ein Mitglied des NKVD oder generell ein Regierungsangestellter.

Sperreinheiten – Militäreinheiten, die im rückwärtigen Bereich oder an der Front (hinter den Hauptstreitkräften) stationiert sind, um die militärische Disziplin aufrechtzuerhalten, die Flucht von Soldaten vom Schlachtfeld zu verhindern, Spione, Saboteure und Deserteure gefangen zu nehmen und Truppen zurückzubringen, die vom Schlachtfeld fliehen oder hinter ihren Einheiten zurückbleiben.

Totalitäres Regime – ein politisches Regime, das die absolute staatliche Kontrolle über alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens beinhaltet.

Anhang I – Hausaufgabe für Schüler*innen

Lies die kurze Geschichte der Schlacht um Stalingrad und unterstreiche beim Lesen bitte die Sätze über:
  • die strategische Bedeutung der Region Stalingrad für beide Seiten.
  • die Ergebnisse der Schlacht.
  • die während der Schlacht erlittenen Verluste.
  • eine Einschätzung der Schlacht im Vergleich zu anderen Schlachten in der Geschichte.
Die Schlacht um Stalingrad (23. August 1942 - 2. Februar 1943) war eine große Schlacht an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs, in der Nazi-Deutschland und seine Verbündeten erfolglos gegen die Sowjetunion um die Kontrolle der Stadt Stalingrad (später in Wolgograd umbenannt) in Südrussland kämpften. Die Schlacht war geprägt von heftigen Nahkämpfen und direkten Angriffen auf die Zivilbevölkerung bei Luftangriffen und war der Inbegriff eines urbanen Krieges. Die Schlacht um Stalingrad war die tödlichste Schlacht des Zweiten Weltkriegs und gehört mit schätzungsweise 2 Millionen Opfern zu den blutigsten Schlachten in der Geschichte der Kriegsführung. Heute gilt die Schlacht um Stalingrad allgemein als Wendepunkt auf dem europäischen Kriegsschauplatz, da sie das deutsche Oberkommando der Wehrmacht zwang, beträchtliche militärische Kräfte aus anderen Gebieten im besetzten Europa abzuziehen, um die deutschen Verluste an der Ostfront zu ersetzen. Der Sieg bei Stalingrad verlieh der Roten Armee neue Kraft und verschob das Kräfteverhältnis zugunsten der Sowjetunion.

Stalingrad war als wichtiger Industrie- und Verkehrsknotenpunkt an der Wolga für beide Seiten von strategischer Bedeutung. Wer Stalingrad kontrollierte, hatte Zugang zu den Ölfeldern des Kaukasus und die Kontrolle über die Wolga. Deutschland, das bereits mit schwindenden Treibstoffvorräten operierte, konzentrierte seine Bemühungen darauf, tiefer in sowjetisches Gebiet vorzudringen und die Ölfelder, um jeden Preis zu erobern. Am 4. August starteten die Deutschen eine Offensive unter Einsatz der 6. Armee und Teilen der 4. Panzerarmee. Unterstützt wurde der Angriff durch intensive Bombenangriffe der Luftwaffe, die einen Großteil der Stadt in Schutt und Asche legten. Die Schlacht artete in einen Kampf von Haus zu Haus aus, während beide Seiten Verstärkung in die Stadt brachten.

Am 19. November startete die Rote Armee die Operation Uranus. Die Flanken der Achsenmächte wurden überrannt und die 6. Armee wurde im Raum Stalingrad abgeschnitten und eingekesselt. Adolf Hitler war entschlossen, die Stadt um jeden Preis zu halten, und verbot der 6. Armee einen Ausbruchsversuch; stattdessen wurde versucht, sie aus der Luft zu versorgen und die Umzingelung von außen zu durchbrechen. Den sowjetischen Streitkräften gelang es, den Deutschen den Nachschub aus der Luft zu verwehren, was die deutschen Streitkräfte bis zum Äußersten belastete. Dennoch waren die deutschen Streitkräfte entschlossen, ihren Vormarsch fortzusetzen und die schweren Kämpfe dauerten weitere zwei Monate an. Am 2. Februar 1943 kapitulierte die deutsche 6. Armee, nachdem sie keine Munition und keine Lebensmittel mehr hatte, als erste von Hitlers Feldarmeen im Zweiten Weltkrieg nach fünf Monaten, einer Woche und drei Tagen Kampf.

Die Achsenmächte erlitten zwischen 747.300 und 868.374 Gefechtsopfer (getötet, verwundet oder gefangen genommen) in allen Teilen der deutschen Streitkräfte und ihrer Verbündeten. Die UdSSR hatte nach Archivangaben insgesamt 1.129.619 Opfer zu beklagen: 478.741 Gefallene oder Vermisste und 650.878 Verwundete oder Kranke. Die UdSSR verlor 4.341 Panzer, 15.728 Artilleriegeschütze und 2.769 Kampfflugzeuge. 955 sowjetische Zivilisten starben in Stalingrad und seinen Vororten durch Luftangriffe.

Quelle: In Anlehnung an  ‘The Battle of Stalingrad’, Wikipedia, letzter Zugriff: 3. Juli 2022.

Anhang II – Arbeitsblatt zur Beobachtung

  Pawlow-Haus Gerhards Mühle
Beschreibung (Was kannst
du sehen?)
 
   
Warum sieht das
Gebäude so aus?
   
Welche Emotionen und Gefühle
hast du, wenn du dir dieses
Gebäude anschaust?
   
War es die richtige Entscheidung,
die Überbleibsel dieses Gebäudes
zu erhalten? – Bitte hinterfrage
diesen Aspekt kritisch.
 
   

Anhang III – Handzettel zum Erlass Nr. 227

Lies den Befehl Nr. 227 unten. Der Befehl wurde am 28. Juli 1942 von Josef Stalin in seiner Eigenschaft als Volkskommissar für Verteidigung erlassen. Er ist bekannt für seinen berühmten Satz „Keinen Schritt zurück!“. Diskutiert in Gruppen, welche Gründe Stalin haben könnte, einen solchen Befehl zu erlassen und welche Folgen dieser Befehl haben könnte. Bitte macht euch Notizen, da diese in einer späteren Klassendiskussion verwendet werden.

„Der Feind schickt ohne Rücksicht auf Verluste neue Kräfte an die Front und dringt tief in die Sowjetunion ein, erobert neue Gebiete, zerstört unsere Städte und Dörfer und schändet, plündert und tötet das sowjetische Volk. Die deutschen Invasoren dringen in Richtung Stalingrad und zur Wolga vor und wollen um jeden Preis den Kuban und den Nordkaukasus mit ihrem Öl und Getreide einnehmen. [...] Ein Teil der sowjetischen Truppen an der Südfront hat, den Panikmachern folgend, viele Städte ohne Widerstand und ohne Befehl aus Moskau verlassen und ihre Fahnen mit Schande bedeckt. Das Volk unseres Landes, das die Rote Armee liebt und achtet, wird allmählich entmutigt und verliert den Glauben an die Rote Armee und viele verfluchen die Rote Armee, weil sie unser Volk unter dem Joch der deutschen Unterdrücker zurückgelassen hat und selbst nach Osten flieht.

Einige Leute an der Front reden sich ein, dass wir uns weiter nach Osten zurückziehen können, da wir viel Territorium, viel Boden und eine große Bevölkerung haben und dass es immer viel Brot für uns geben wird. Damit wollen sie die Angst an der Front rechtfertigen. Aber solches Gerede ist lügnerisch und hilft lediglich unseren Feinden. Jeder Kommandeur, jeder Soldat der Roten Armee und jeder politische Kommissar sollte verstehen, dass unsere Mittel nicht unbegrenzt sind. Das Territorium des Sowjetstaates ist keine Wüste, sondern besteht aus Menschen - Arbeiter*innen, Landarbeiter*innen, unseren Vätern, Müttern, Ehefrauen, Brüdern, Kindern. [...] Wir haben mehr als 70 Millionen Menschen, mehr als 800 Millionen Pfund Brot jährlich und mehr als 10 Millionen Tonnen Metall jährlich verloren. Jetzt haben wir keine Vorherrschaft über die Deutschen an menschlichen Reserven, an Brotreserven. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass es an der Zeit ist den Rückzug zu beenden. Keinen Schritt zurück! Das sollte jetzt unsere Hauptdevise sein.

Diesem Befehl gemäß sollen die Militärräte der Fronten und die Frontkommandanten: [...]

a) innerhalb jeder Front ein bis drei (je nach Lage) Strafbataillone (800 Personen) bilden, in die Kommandeure und Oberbefehlshaber und entsprechende Kommissare aller Waffengattungen, die sich durch Feigheit oder Verwirrung eines Disziplinverstoßes schuldig gemacht haben, entsandt werden, und sie in schwierigere Abschnitte der Front versetzen, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Verbrechen gegen das Vaterland mit ihrem Blut zu sühnen. [...]

b) innerhalb der Reihen jeder Armee 3 bis 5 gut bewaffnete Sperreinheiten (bis zu 200 Personen in jedem) zu bilden und sie direkt hinter instabile Divisionen zu stellen und sie im Falle von Panik und verstreuten Rückzügen von Teilen der Divisionen dazu zu verpflichten, Panikmacher und Feiglinge an Ort und Stelle zu erschießen und so den ehrlichen Soldat*innen der Division zu helfen und ihre Pflicht gegenüber dem Vaterland zu erfüllen; [...]

c) den Verteidigungskräften der Armee jede Hilfe und Unterstützung bei ihrer Aufgabe gewähren und die Ordnung und Disziplin in den Einheiten stärken.“
 
Der Volkskommissar für Verteidigung
Josef Stalin

Quelle: Befehl des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR. Moskau, Nr. 227, 28. Juli 1942, letzter Zugriff: 18. Januar 2023.

Anhang IV – Historische Quellen zum Befehl Nr. 227

Quelle 1: Sowjetischer Offizier
„Der Befehl Nr. 227 ist eines der stärksten Dokumente der Kriegsjahre, was die Tiefe des patriotischen Inhalts und den Grad der emotionalen Spannung angeht. Es gab viele widersprüchliche Ansichten über den Befehl, aber er kann damit gerechtfertigt werden, dass er in einer sehr harten und ängstlichen Zeit erlassen wurde. Am Erlass hat uns vor allem sein sozialer und moralischer Inhalt angesprochen.“

A. Wasilewski (1978). Das Werk eines Lebens. Moskau: Politizdat, S. 552.
Quelle 2: Schriftsteller & sowjetischer Soldat
„Wir... waren eine ganze Stunde lang wie betäubt, nachdem wir den Befehl gelesen hatten. So richtig zur Besinnung kam ich erst ein paar Tage später in Moskau. In diesen Tagen schien es mir, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Vorher war der Krieg wie ein Knäuel. Zuerst wie ein Knäuel von Unglücksfällen, dann, im Dezember '41, schien sich dieses Knäuel zu lösen, aber dann begann es sich wieder zu winden, wie ein Knäuel von neuen Unglücksfällen. Und plötzlich, als ich diesen Befehl las, schien alles stehen zu bleiben. Jetzt schien die Bewegung des Lebens eine Art Sprung in die Zukunft zu sein - entweder springen oder sterben!“

K. M. Simonov (1982). Verschiedene Tage des Krieges: Das Tagebuch eines Schriftstellers. Bd. 2. 1942-1945. Moskau: Khudozhestvennaya Literatura, S. 688
Quelle 3: Sowjetischer Offizier
„Stalin hoffte, dass die Soldaten der Roten Armee unter der Androhung von Hinrichtungen und Strafbataillonen härter kämpfen und dem Feind mehr Schaden zufügen würden. In Wirklichkeit geschah manchmal das Gegenteil. Aus Angst vor Repressalien waren die Befehlshaber auf allen Ebenen manchmal zu spät mit dem Rückzug dran, was nur zu zusätzlichen Verlusten führte.“

Sokolov, B. V. (2013). Das Wunder von Stalingrad. Moskau: Algorithmus, S. 45.
Quelle 4: Kriegsveteran
„Die Truppen gingen zum Angriff über, getrieben vom Schrecken. Es war ein schreckliches Zusammentreffen mit den Deutschen, mit ihren Maschinengewehren und Panzern, mit dem feurigen Fleischwolf der Bombenangriffe und dem Artilleriebeschuss. Nicht weniger schrecklich war die unerbittliche Drohung mit der Hinrichtung. Um die formlose Masse der schlecht ausgebildeten Soldaten gefügig zu machen, wurden vor der Schlacht Hinrichtungen durchgeführt. Man schnappte sich ein paar mickrige Weltverbesserer oder solche, die etwas ausplauderten, oder zufällige Deserteure, von denen es immer reichlich gab. Sie reihten die Division mit dem Buchstaben "P" auf und erledigten die Unglücklichen, ohne zu reden. Diese präventive politische Arbeit führte dazu, dass die Angst vor dem NKWD und den Kommissaren größer war als vor den Deutschen. Und in der Offensive, wenn du dich umdrehst, bekommst du eine Kugel von der Truppe. Die Angst zwang die Soldaten, in den Tod zu gehen. Darauf hat unsere kluge Partei, der Führer und Organisator unserer Siege, gesetzt. Natürlich wurden sie auch nach einer erfolglosen Schlacht erschossen. Daraus ergibt sich die Kampffähigkeit unserer tapferen Truppen.

Die Aktionen der Truppenteile sind unter Bedingungen allgemeiner Uneinigkeit, Panik und Flucht verständlich, wie es zum Beispiel in Stalingrad zu Beginn der Schlacht der Fall war. Dort war es mit Hilfe von Grausamkeit möglich, die Ordnung wiederherzustellen und selbst dann ist es schwierig, diese Grausamkeit zu rechtfertigen. Aber am Ende des Krieges, vor der Kapitulation des Feindes, zu ihr zu greifen! Was für eine ungeheuerliche Dummheit war das!“

N. N. Nikulin (2008). Erinnerungen an den Krieg. St. Petersburg: Hermitage Museum. pp. 43-47, 231.

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