Lektionen aus den Lagern: Wie man durch den Besuch eines ehemaligen Konzentrations-/Vernichtungslagers über die Veerletzung grundlegender Menschenrechte lernen kann

Anna Skiendziel Komplex der Fach- und Sekundarschulen Nr. 2, Katowice, Polen

15-20 Jahre

45 mins preparation + 180-240 mins visit (travel time not included) + 45-90 mins reflection

Zusammenfassung: Bei den vorgeschlagenen Aktivitäten geht es um die Reflexion über das menschliche Verhalten gegenüber anderen, die Verletzung grundlegender Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, Freiheit (der Rede, des Gewissens, der Religion), Würde und der Nichtanwendung von Folter. Die Schüler*innen werden am Beispiel des Holocausts erkunden, wie Menschenrechtsverletzer stufenweise von der Anwendung verbaler Gewalt bis hin zur Ausrottung vorgehen. Ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts ist der Besuch einer Gedenkstätte: ein ehemaliges nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager wie Kulmhof, Treblinka, Auschwitz-Birkenau, Sachsenhausen, Bergen-Belsen oder Groß-Rosen. Die Schüler*innen lernen nicht nur die Geschichte der Entstehung des Netzes der Konzentrationslager kennen, sondern auch Verhaltensregeln und mögliche emotionale Reaktionen während des Besuchs. Nach dem Besuch haben sie während des Unterrichts Gelegenheit, über Emotionen und ihre eigenen Überlegungen zu sprechen und etwas über die von Allport beschriebene sogenannte „Hasspyramide“ gegenüber verschiedenen Nationalitäten, ethnischen Gruppen und Minderheiten zu erfahren.1  Die Schüler*innen werden in der Lage sein, darüber nachzudenken, wie man Gewalt und Verletzungen von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien entgegenwirken kann.

Schlüsselfrage:
Wie haben sich Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Zweiten Weltkriegs manifestiert, und wie können wir sie in Zukunft verhindern?

1 Gordon Allport war ein amerikanischer Wissenschaftler, der mit der Harvard-Universität zusammenarbeitete. In seinen Forschungen stellte er fest, dass den Verbrechen, die in der Welt begangen wurden, wie z.B. die Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs, Hassreden, Ausgrenzung und Diskriminierung gegen eine bestimmte soziale Gruppe oder Schicht, vorausgingen. Dies stellte er als Hasspyramide dar. Sie hat 5 Stufen: Hassrede, Meidung, Diskriminierung, physische Gewalt und Vernichtung. Die Allport-Skala misst die Ausprägung von Vorurteilen in einer Gesellschaft. Sie wird im Folgenden näher erläutert, siehe auch Allport, G. (1954). The Nature of Prejudice. Cambridge: Addison-Wesley.

Kompetenzerwerb

Die Schüler*innen werden
  • die Werte der Menschenrechte und der Menschenwürde kennenlernen, indem sie die Geschichte der Konzentrationslager und die Bedingungen, unter denen die Häftlinge lebten, entdecken.
  • die Geschichten der Überlebenden kennenlernen und Empathie entwickeln sowie die Gefühle kennenlernen, die mit dem Besuch einer Gedenkstätte einhergehen können.
  • eine respektvolle Haltung gegenüber den Menschenrechten entwickeln und eine verantwortungsvolle Haltung bei Entscheidungen einnehmen, die das Schicksal anderer Menschen beeinflussen können.
  • die Fähigkeit entwickeln, in einer Gruppe zu arbeiten und Schlussfolgerungen aus historischen Berichten und Quellen zu ziehen.
  • den Prozess der Verletzung demokratischer Werte kennenlernen und verstehen, indem ihnen gezeigt wird, dass Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Völkermord führen können. Sie werden die Rolle der Propaganda vor und während des Krieges verstehen.
  • über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nachdenken und die Umstände erkennen, unter denen diese Werte bedroht sind und über ihre eigene Rolle und Verantwortung sowie ihr eigenes Potenzial, Einfluss zu nehmen, nachdenken.

Pädagogische Empfehlungen

Die Lehrkräfte sollten mit dem Ort, den sie mit den Schülern*innen besuchen werden, vertraut sein. Wenn die Lehrer noch nie in diesem Lager waren, sollten sie zur Vorbereitung ähnliche Lager in der Nähe ihres Wohnortes besuchen. Der Unterricht über den Holocaust sollte an das Alter und die Reife der Schüler*innen angepasst werden. Die Lehrkräfte kennen ihre Schüler*innen am besten und können vor dem Besuch mit dem Guide sprechen.

Die Vorbereitung auf den Besuch erfordert nicht nur das Erlernen der Geschichte des Ortes, sondern auch eine emotionale Vorbereitung und Verhaltenstipps. Der Besuch einer Gedenkstätte ist kein Ausflug, wie z.B. in die Berge. Am besten wäre es, wenn der Besuch ein separater Schulbesuch wäre und nicht Teil einer Unterhaltungsreise.

Es ist wichtig, nach dem Besuch mit den Schülern*innen zu sprechen und zu reflektieren. Der Holocaust sollte eine Warnung und ein Beispiel dafür sein, wie Verstöße gegen die Menschenrechte, die Grundsätze der Demokratie und Fremdenfeindlichkeit zu Ausrottung und Völkermord führen können.

Vorbereitende Aktivitäten

Zur Vorbereitung auf die Lernaktivität und die Reise sollte sich jede*r Schüler*in einen der Berichte von Holocaust-Überlebenden ansehen (für Quellen siehe Anhang II).
Bevor sie sich den Film ansehen, sollten sie ihre Antworten auf diese Fragen aufschreiben:
  1. Was erwartest du zu hören?
  2. Wie wirst du dich beim Zuschauen fühlen? Was hast du beim Lesen gefühlt? Hast du neue Emotionen empfunden?
Nach dem Anschauen sollten die Schüler*innen ihre Überlegungen und Gefühle aufschreiben; die nachstehenden Fragen können dabei als Leitfaden dienen.
  1. Was hast du beim Lesen gefühlt? Hast du neue Emotionen empfunden?
  2. Was hat dich am meisten beeindruckt? Und weshalb?
  3. Woran erinnerst du dich am besten?
In Anhang I findet sich eine Abschrift von Lydia Tischlers Geschichte für den Fall, dass die Schüler*innen Schwierigkeiten haben, auf einen anderen Bericht zuzugreifen.

Phase 1: Einführung. 15 Minuten

Die Lehrkraft beginnt mit einem Überblick über die Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager im Dritten Reich mit Hilfe der folgenden Grafiken. Die Darstellung der Zeitachse ist wichtig, damit die Schüler*innen sehen, dass die ganze Maschinerie nicht mit dem Ausbruch des Krieges oder 1940 in Auschwitz begann. Das System der Identifizierung zeigt auch, dass die Häftlinge in den Lagern nicht einer bestimmten nationalen oder religiösen Gruppe angehörten usw.
Die Lehrkraft sollte den Schüler*innen Karten zeigen und sie kommentieren, die die Etappen der Errichtung des gesamten Lagernetzes (16 Lager und 900 Außenlager) zeigen.
 
Skizze der Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager in Nazi-Deutschland. Bild © Anna Skiendziel & Laura Klimaite-Lusa
Form und Farbe der Markierung von Lagerhäftlingen in den Konzentrationslagern. Quelle: ‘Kennzeichen der Häftlinge in den Konzentrationslagern’, Wikipedia
Die wichtigsten deutschen Besatzungs- (Konzentrations-) und Vernichtungslager im sogenannten Großdeutschland der Jahre 1941-1944.
Bild © Institute of National Remembrance, alle Reche vorbehalten, https://en.truthaboutcamps.eu/
Phase 2: Gefühlskarten. 20 Minuten
Nach dem Vortrag teilt der Lehrer die Schüler*innen in kleine Gruppen ein. Ihre Aufgabe ist es, ihre eigenen Gefühlskarten zu erstellen, die auf den Emotionen basieren, die sie empfunden haben, als sie die Interviews mit den Zeitzeugen gesehen oder gelesen haben. Sie können dann ihre Karten mit ihren Gefühlen vergleichen, nachdem sie von der Gedenkstätte zurückgekehrt sind. Das Rad der Gefühle von Robert Plutchik (unten) kann dabei helfen, falls Schüler*innen Schwierigkeiten haben diese zu benennen.

Vergleicht im Klassenzimmer die Gefühle der einzelnen Gruppen. Ein*e Schüler*in ist dafür verantwortlich, die Schlussfolgerungen der Gruppe zu erläutern. Die Lehrkraft markiert bestimmte Gefühle auf dem Rad der Gefühle.
Robert Plutchiks Gefühlsrad. Autor: Laura Klimaite
Phase 3: Emotionale Vorbereitung. 10 Minuten
Diese Phase ist sehr wichtig und sollte nicht umgangen werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Schüler*innen zum ersten Mal an einem Ort wie diesem sind; es ist notwendig, über das Verhalten zu sprechen.

Die Lehrkraft muss mit dem Schüler*innen über ihre Gefühle sprechen. Sie haben das Recht auf Emotionen, auf Weinen, auf Angst. Sie können eine Ausstellung jederzeit verlassen, z.B. wenn sie etwas nicht sehen wollen. Während des Besuchs sollten die Schüler*innen stets wissen, dass sie sich an die Lehrkraft wenden, mit ihr sprechen und ihre Gefühle und Beobachtungen kommentieren können.

Die Lehrkraft sollte die Schüler*innen daran erinnern, dass es sich nicht um eine Vergnügungsreise handelt, sondern um den Besuch einer Gedenkstätte, eines Museums oder eines Friedhofs.

Besuchsbezogene Aktivitäten vor Ort

Die Lehrkraft sollte während des Besuchs nicht übermäßig aktiv sein. Manchmal ist es für eine Gruppe obligatorisch, von einem offiziellen Guide begleitet zu werden. Dieser wird die Geschichte des Ortes erzählen, die Ausstellungen zeigen oder den Schüler*innen Fragen stellen. Den Schüler*innen sollten keine spezifischen Aufgaben gestellt werden, sondern sie sollten sich so gut wie möglich auf diesen Erinnerungsort konzentrieren, auf ihre Emotionen, auf das Nachdenken und nicht auf die mechanische Ausführung von Aufgaben.

Am Ende des Besuchs bittet die Lehrkraft die Schüler*innen um eine 2-3-minütige Zusammenfassung und fragt sie nach ihren Gefühlen. Wenn die Schüler*innen Fragen zu einem Erinnerungsort haben oder mehr wissen wollen, sollte die Lehrkraft ihnen den Raum und die Möglichkeit geben, alles zu fragen, was mit dem Besuch zusammenhängt.

Aktivitäten zum Nachdenken

Phase 1: Reflexion (verpflichtend). 45 Minuten
Es ist notwendig, nach dem Besuch eine ganze Unterrichtsstunde zu organisieren und aufzuarbeiten, was die Schüler*innen gesehen und gefühlt haben. Zu Beginn führt die Lehrkraft ein einleitendes Gespräch über die Gefühle der Schüler*innen und fragt sie, ob sie mit jemandem über den Besuch der Gedenkstätte gesprochen haben, z. B. mit einem Elternteil, einem Geschwisterteil, einem Freund oder einer Freundin. Dann kehrt die Lehrkraft zu den Fragen aus der Hausaufgabe zurück:
  1. Was hast du gefühlt? Hast du neue Emotionen kennengelernt?
  2. Was hat dich am meisten beeindruckt und weshalb?
  3. An was kannst du dich am besten erinnern?
Je nach Situation und Klasse kann die Lehrkraft die Form der offenen Diskussion (1) oder Online-Tools (2) verwenden.
  1. Schüler*innen finden sich in 2er-Gruppen zusammen und teilen die bereits beantworteten Fragen miteinander. Anschließend wird das Schneeballverfahren angewendet. Die 2er Gruppen finden sich zu 4er-Gruppen zusammen und tauschen ihre Überlegungen aus. Zwei weitere Gruppen schließen sich zusammen und aus vier werden acht. Zum Schluss stellt eine Person aus der Gruppe vor, was in ihrer Gruppe passiert ist, was die Reaktionen und Gefühle sind.
  2. Der zweite Lösungsvorschlag ist die Verwendung der Mentimeter-App. Sie ermöglicht die anonyme, individuelle Übermittlung von Antworten. Sie vermittelt ein Gefühl der Sicherheit, und die Schüler*innen können jede Antwort ohne Druck oder Angst abgeben. Schließlich kann die Lehrkraft die Antworten und ihre Kommentare dazu anzeigen.
Unabhängig von der Form der Zusammenfassung sollte die Lehrkraft auf die Übung zur Gefühlskarte vor dem Besuch Bezug nehmen. Gemeinsam können die Schüler*innen vergleichen und diskutieren, ob sich etwas verändert hat und warum.

Phase 2: Pyramide des Hasses (optional). 45 Minuten
Der Besuch einer Gedenkstätte ist nicht nur eine Studie über diesen Ort und seine Geschichte, sondern soll auch eine universelle Botschaft vermitteln, indem er die Mechanismen aufzeigt, die zur Ausrottung führen. Ein wichtiger Aspekt nach dem Besuch ist daher, ihnen zu zeigen, wie ein solcher Prozess ablaufen kann. Anhand der Pyramide des Hasses von Gordon Allport erklärt die Lehrkraft, dass das, was die Schüler*innen gesehen und gelernt haben, nicht plötzlich auftrat, sondern, dass es sich um einen langen Prozess handelt.

Zu Beginn der Unterrichtsstunde kann die Lehrkraft fragen: Warum hat es in Ruanda, Jugoslawien und der Ukraine auch nach der Erfahrung des Holocausts Völkermord und Massenmord gegeben? Wie konnte dies geschehen?
Pyramid des Hasses. Allport, Gordon (1954). The Nature of Prejudice, Cambridge: Addison-Wesley.
Die Lehrkraft stellt die Pyramide des Hasses am Beispiel des Holocausts vor und erklärt den Weg von der Hassrede bis zur Ausrottung. Ein kurzes Animationsvideo (4 Minuten), das von Confronting Memories erstellt wurde, kann zur Erklärung der Pyramide verwendet werden. Nach der Diskussion über den Mechanismus sollen die Schüler*innen diskutieren, ob sie ähnliche Situationen und Gruppen finden, auf die die Pyramide des Hasses in der heutigen Zeit zutreffen könnte. Verwendet die folgenden Fragen, um die Diskussion zu unterstützen:

Leichtere Fragen:
  • Kennst du andere Beispiele, wo die Allport-Pyramide angewendet werden kann?
  • Kennst du eine Gruppe, die mit negativen Kommentaren, Ausgrenzung oder körperlichen Angriffen konfrontiert ist?
  • Wie können Menschen auf solche Mechanismen reagieren und Widerstand leisten?
  • Was können/sollten wir tun?
  • Ist es sinnvoll zu demonstrieren für eine einzelne Person?
Fortgeschrittenere Fragen:
  • Sollte das Wissen über die Verfolgung der Juden und ihrer Einrichtungen jetzt weitergegeben und verbreitet werden?
  • Kennst du Beispiele für Aussagen/Texte, die den Holocaust verleugnen?
  • Wie verhielt sich die Weltgemeinschaft, die Zeuge der Judenvernichtung wurde?
  • Treffen diese Fragen nur auf Juden zu? Waren oder sind wir Zeugen von Verfolgung, Tragödien anderer Nationen, ethnischer Gruppen oder Minderheiten?

Hausaufgabe

Nach dem Besuch: Versucht, auf der Grundlage des Vortrags von Marian Turski und eures Wissens, in etwa 200 Wörtern eine Antwort auf die folgenden Fragen zu finden: Welche Schlussfolgerungen können Menschen heutzutage aus der Erfahrung des Holocaust ziehen?

Quelle: ‘Auschwitz, 75 years on: “Do not be indifferent”, says death camp survivor Marian Turski’, YouTube France 24 English, letzter Zugriff: 12. Juli 2022.

Bewertung

Vor der Lektion sollte sich jede/r Schüler*in einen der Berichte von Holocaust-Überlebenden ansehen. Nach dem Anschauen müssen sie ihre Überlegungen und Gefühle aufschreiben. Die Lehrkraft überprüft anschließend, ob die Hausaufgaben der Schüler*innen vollständig sind.

Während der Unterrichtsstunde und des Besuchs ist es nicht die Aufgabe der Lehrkraft, eine Bewertung vorzunehmen. Sie können das Engagement der Schüler*innen während der Unterrichtsstunde bewerten, sollten dabei aber die möglicherweise neue und überwältigende Umgebung im Hinterkopf behalten.

Die Lehrkraft kann den kurzen Aufsatz nach formalen Kriterien beurteilen, z. B. nach der Stärke der Argumente. Inhaltlich kann die Lehrkraft die Wirkung der Unterrichtsstunde und den Effekt, den sie auf die Schüler*innen hatte, beurteilen.

Glossar

Hassrede – Verbreitung negativer Stereotypen in Verbindung mit feindseliger, verletzender Sprache.

Ausgrenzung – Entmenschlichung und Isolierung von Personen und sozialen Gruppen.

Diskriminierung – ungleiche Behandlung sowohl durch Einzelpersonen als auch durch staatliche Institutionen.

Anhang I - Die Geschichte von Lydia Tischler

Lies die Geschichte von Lydia und denke über die folgenden Fragen nach:
  1. Was fühltest du während des Lesens? Hast du für dich bis zu dem Zeitpunkt unbekannte Emotionen kennengelernt?
  2. Was hat am meisten Eindruck auf dich geschindet und weshalb?
  3. An was erinnerst du dich am besten?
Dies ist ein Foto von mir in meinem ersten Schuljahr. In dieser Klasse waren etwa 38 Kinder, von denen 6 überlebten. Mein Name ist Lydia Tischler. Ich bin 88 Jahre alt. Von September '42 bis Mai '45 war ich in verschiedenen Konzentrationslagern.

Welche Erfahrungen haben Sie in Auschwitz gemacht?
Auschwitz war die Hölle. Auschwitz war wirklich die Hölle. Wir waren im vorletzten Transport nach Auschwitz. Im letzten Transport waren alle prominenten Leute aus Theresienstadt, die direkt in die Gaskammer gingen. Wir waren etwa 50 Leute in einem Viehtransporter mit einem Eimer. Das war's. Wir kamen mitten in der Nacht an, und in Auschwitz konnte man die Angst riechen. Man konnte die Angst wirklich riechen. Und wir mussten durch einen Selektionsabschnitt gehen. Mengele, von dem Sie möglicherweise schon gehört haben, stand da und schaute einen an und schickte einen dann nach links oder nach rechts. Die linke Seite war die Seite für das Leben und die rechte Seite war die Seite für das Gas. Ich wusste, dass unsere Mutter... denn sie kam nicht nach links, sie ging nach rechts. Aber nach dem Krieg habe ich irgendwie gehofft, dass sie vielleicht in einem Lager für Vertriebene war. Dass sie nicht tot war. Dass sie irgendwie, wie durch ein Wunder, entkommen war. Wir wurden in eine große Halle getrieben und sollten uns ausziehen. Und dann kam jemand und rasierte uns alle Haare ab. Und dann wurden wir in einen anderen Raum getrieben, wo wir auf Bänken saßen wie in einem Theater. Und dann sagten uns die Leute, die schon länger dort waren, ihr wisst schon, ihr werdet in die Gaskammer kommen, und so saßen wir da, und ich muss sagen, ich saß da und wusste nicht, ob es Wasser oder Gas sein würde. Es war Wasser. Ich erinnere mich, dass, als ich nach Auschwitz kam, in einem Raum, in dem sie uns alles abnahmen, eine Holztafel mit allen Nationalitäten des Lagers stand. Ich glaube ganz oben waren weder Engländer noch Franzosen zu sehen. Die unteren zwei waren die Zigeuner und die Juden. Ich erinnere mich heute, dass ich zu mir selbst sagte, dass ich mir das merken müsse. Aus irgendeinem Grund schien es mir wichtig zu sein, wo sie uns unterbrachten.

Wie sind Sie mit dem Alltag zurechtgekommen?
Ich habe einfach jeden Tag so genommen, wie er kam. Ich habe in den Gärtnereien gearbeitet. Manchmal konnten wir einige der Früchte wegschmuggeln. Gurken zum Beispiel. Wenn sie schön gebogen waren, konnte man sie in den BH stecken und ins Lager bringen. Und zum Glück hat uns niemand die Kleider ausgezogen, um zu schauen, ob wir wir etwas versteckt hatten. Kartoffeln konnte man in seine Strümpfe stecken. Tomaten waren nicht sicher, weil sie zerquetscht werden konnten. Paradoxerweise lernte ich in Theresienstadt das kulturelle Leben kennen. Wissen Sie, alle bekannten Schauspieler, Musiker, Schriftsteller und Professoren waren auch im Lager. Es gab also ein reiches kulturelles und intellektuelles Leben, soweit das möglich war. In Theresienstadt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Requiem von Verdi gehört.
Ich hätte es nicht gehört, wenn ich im Alter von 12 Jahren zu Hause in Ostrava gewesen wäre. Für Leute wie mich war das Leben nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war es für ältere Menschen, die den Hunger spürten und das Gefühl hatten, dass sie bereits ein Leben hatten, welches ihnen genommen worden war.

Was denken Sie über Menschen, die den Holocaust im Laufe der Jahre geleugnet haben?
Normalerweise leugnet ein Mensch etwas, da er glaubt es leugnen zu müssen, weil er ein schlechter Mensch ist und er sich nicht schlecht fühlen möchte. Er muss folglich leugnen, dass jemand - Sie wissen schon, er hätte es vielleicht gerne selbst getan. So verstehe ich es, wenn Menschen die Gräueltaten leugnen müssen. Als ich nach England kam, gelang es mir tatsächlich, eine Schule zu finden und ich ging auf die Brondesbury and Kilburn Oberschule für Mädchen. Als die Mädchen hörten, woher ich kam und mir Fragen stellten, da dachte ich: "Wie können sie mir solche Fragen stellen? Sie haben doch die Filme gesehen". Als ich Psychologie studierte, verstand ich jedoch, dass man Dinge, die außerhalb der menschlichen Erfahrung liegen, einfach nicht glauben kann. Als ich später Psychologie und Psychoanalyse studierte, entdeckte ich wie nützlich Abwehrmechanismen sind. Man konnte es glauben und nicht glauben. Man sagte sich: "Nein, die haben einen Fehler gemacht. Das kann nicht wahr sein." Also gingen die Leute einfach nach Auschwitz und nur sehr wenige überlebten. Ich glaube, dass eine Person, die aus Auschwitz entkam, ein tschechischer Mann, Menschen seine Geschichte erzählte und niemand glaubte ihm.

Wie möchten Sie als Überlebender, dass der Holocaust in Erinnerung bleibt?
Die beste Art der Erinnerung wäre, wenn die Menschen aus dieser Erfahrung lernen könnten, damit sich so etwas nicht wiederholt. Und tatsächlich ist es bemerkenswert, dass ich nie das Gefühl hatte, mich rächen zu wollen. Ich habe mich auch nicht wie ein Opfer gefühlt. Es ist ihnen nicht gelungen mich zu einem Opfer zu machen. Ich bin ein Überlebender, was etwas ganz anderes ist. Wir hielten sie für unmenschlich, aber ich glaube, sie haben mir nie das Gefühl gegeben, dass ich weniger als ein Mensch bin. Ich konnte, wissen Sie, ich musste ertragen, was sie mir antaten. Wenn sie mir sagten, ich solle mich ausziehen und ich sagte: "Ich verstehe nicht", hätten sie mich erschossen oder, ich weiß nicht, was sie getan hätten. Obwohl die Deutschen in der Lage waren mir alles wegzunehmen - fast alles, außer meinem Leben -, ließen sie mich am Leben. Wissen Sie, alles, was man mir wegnehmen konnte, haben sie mir weggenommen - meine Seele konnten sie nicht wegnehmen. Meine Seele, meine Integrität, mein inneres Selbst konnten sie mir nicht nehmen. Das konnte ich mir bewahren. Wir alle, wissen Sie, wir alle haben die Fähigkeit, sadistisch und grausam zu anderen Menschen zu sein. Wir schaffen es, es nicht zu tun, aber ein destruktives Potenzial steckt in uns allen. Ich glaube tatsächlich, dass Menschen geboren werden - nun, sie werden weder gut noch schlecht geboren und dass die Bösartigkeit ein Ergebnis der Art und Weise ist, wie jemand als Kind behandelt wurde. Ich glaube, wenn man als Kind gut behandelt wird, kann man nicht zum Hitler werden.

Quelle: ‘Holocaust survivor interview, 2017’, YouTube Channel 4 News, letzter Zugriff: 12. Juli 2022.

Anhang II - Empfohlene Lektüre und weitere Forschung für Lehrer

Wir empfehlen die folgenden Quellen, um sich auf eine Reise in ein Konzentrations- oder Vernichtungslager vorzubereiten: Diese Ressourcen können für Primärquellen nützlich sein:
  • (EN) ‘Institute of National Remembrance: Truth about Camps’ – information about concentration/extermination camps in occupied Poland, letzter Zugriff: 24. Januar 2023.
  • (EN) ‘Holocaust Encyclopedia’ – articles, digitised collections, critical thinking and discussion questions, lesson plans, oral histories, videos, letzter Zugriff: 24. Januar 2023.
  • (EN) ‘Centropa’ – archive with biographies, interviews, photos and documents from Holocaust victims and survivors, letzter Zugriff: 24. Januar 2023.
Interviews mit Zeitzeugen und ehemaligen Häftlingen finden Sie hier:

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