Anhang I - Die Geschichte von Lydia Tischler
Lies die Geschichte von Lydia und denke über die folgenden Fragen nach:
- Was fühltest du während des Lesens? Hast du für dich bis zu dem Zeitpunkt unbekannte Emotionen kennengelernt?
- Was hat am meisten Eindruck auf dich geschindet und weshalb?
- An was erinnerst du dich am besten?
Dies ist ein Foto von mir in meinem ersten Schuljahr. In dieser Klasse waren etwa 38 Kinder, von denen 6 überlebten. Mein Name ist Lydia Tischler. Ich bin 88 Jahre alt. Von September '42 bis Mai '45 war ich in verschiedenen Konzentrationslagern.
Welche Erfahrungen haben Sie in Auschwitz gemacht?
Auschwitz war die Hölle. Auschwitz war wirklich die Hölle. Wir waren im vorletzten Transport nach Auschwitz. Im letzten Transport waren alle prominenten Leute aus Theresienstadt, die direkt in die Gaskammer gingen. Wir waren etwa 50 Leute in einem Viehtransporter mit einem Eimer. Das war's. Wir kamen mitten in der Nacht an, und in Auschwitz konnte man die Angst riechen. Man konnte die Angst wirklich riechen. Und wir mussten durch einen Selektionsabschnitt gehen. Mengele, von dem Sie möglicherweise schon gehört haben, stand da und schaute einen an und schickte einen dann nach links oder nach rechts. Die linke Seite war die Seite für das Leben und die rechte Seite war die Seite für das Gas. Ich wusste, dass unsere Mutter... denn sie kam nicht nach links, sie ging nach rechts. Aber nach dem Krieg habe ich irgendwie gehofft, dass sie vielleicht in einem Lager für Vertriebene war. Dass sie nicht tot war. Dass sie irgendwie, wie durch ein Wunder, entkommen war. Wir wurden in eine große Halle getrieben und sollten uns ausziehen. Und dann kam jemand und rasierte uns alle Haare ab. Und dann wurden wir in einen anderen Raum getrieben, wo wir auf Bänken saßen wie in einem Theater. Und dann sagten uns die Leute, die schon länger dort waren, ihr wisst schon, ihr werdet in die Gaskammer kommen, und so saßen wir da, und ich muss sagen, ich saß da und wusste nicht, ob es Wasser oder Gas sein würde. Es war Wasser. Ich erinnere mich, dass, als ich nach Auschwitz kam, in einem Raum, in dem sie uns alles abnahmen, eine Holztafel mit allen Nationalitäten des Lagers stand. Ich glaube ganz oben waren weder Engländer noch Franzosen zu sehen. Die unteren zwei waren die Zigeuner und die Juden. Ich erinnere mich heute, dass ich zu mir selbst sagte, dass ich mir das merken müsse. Aus irgendeinem Grund schien es mir wichtig zu sein, wo sie uns unterbrachten.
Wie sind Sie mit dem Alltag zurechtgekommen?
Ich habe einfach jeden Tag so genommen, wie er kam. Ich habe in den Gärtnereien gearbeitet. Manchmal konnten wir einige der Früchte wegschmuggeln. Gurken zum Beispiel. Wenn sie schön gebogen waren, konnte man sie in den BH stecken und ins Lager bringen. Und zum Glück hat uns niemand die Kleider ausgezogen, um zu schauen, ob wir wir etwas versteckt hatten. Kartoffeln konnte man in seine Strümpfe stecken. Tomaten waren nicht sicher, weil sie zerquetscht werden konnten. Paradoxerweise lernte ich in Theresienstadt das kulturelle Leben kennen. Wissen Sie, alle bekannten Schauspieler, Musiker, Schriftsteller und Professoren waren auch im Lager. Es gab also ein reiches kulturelles und intellektuelles Leben, soweit das möglich war. In Theresienstadt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Requiem von Verdi gehört.
Ich hätte es nicht gehört, wenn ich im Alter von 12 Jahren zu Hause in Ostrava gewesen wäre. Für Leute wie mich war das Leben nicht das Schlimmste. Viel schlimmer war es für ältere Menschen, die den Hunger spürten und das Gefühl hatten, dass sie bereits ein Leben hatten, welches ihnen genommen worden war.
Was denken Sie über Menschen, die den Holocaust im Laufe der Jahre geleugnet haben?
Normalerweise leugnet ein Mensch etwas, da er glaubt es leugnen zu müssen, weil er ein schlechter Mensch ist und er sich nicht schlecht fühlen möchte. Er muss folglich leugnen, dass jemand - Sie wissen schon, er hätte es vielleicht gerne selbst getan. So verstehe ich es, wenn Menschen die Gräueltaten leugnen müssen. Als ich nach England kam, gelang es mir tatsächlich, eine Schule zu finden und ich ging auf die Brondesbury and Kilburn Oberschule für Mädchen. Als die Mädchen hörten, woher ich kam und mir Fragen stellten, da dachte ich: "Wie können sie mir solche Fragen stellen? Sie haben doch die Filme gesehen". Als ich Psychologie studierte, verstand ich jedoch, dass man Dinge, die außerhalb der menschlichen Erfahrung liegen, einfach nicht glauben kann. Als ich später Psychologie und Psychoanalyse studierte, entdeckte ich wie nützlich Abwehrmechanismen sind. Man konnte es glauben und nicht glauben. Man sagte sich: "Nein, die haben einen Fehler gemacht. Das kann nicht wahr sein." Also gingen die Leute einfach nach Auschwitz und nur sehr wenige überlebten. Ich glaube, dass eine Person, die aus Auschwitz entkam, ein tschechischer Mann, Menschen seine Geschichte erzählte und niemand glaubte ihm.
Wie möchten Sie als Überlebender, dass der Holocaust in Erinnerung bleibt?
Die beste Art der Erinnerung wäre, wenn die Menschen aus dieser Erfahrung lernen könnten, damit sich so etwas nicht wiederholt. Und tatsächlich ist es bemerkenswert, dass ich nie das Gefühl hatte, mich rächen zu wollen. Ich habe mich auch nicht wie ein Opfer gefühlt. Es ist ihnen nicht gelungen mich zu einem Opfer zu machen. Ich bin ein Überlebender, was etwas ganz anderes ist. Wir hielten sie für unmenschlich, aber ich glaube, sie haben mir nie das Gefühl gegeben, dass ich weniger als ein Mensch bin. Ich konnte, wissen Sie, ich musste ertragen, was sie mir antaten. Wenn sie mir sagten, ich solle mich ausziehen und ich sagte: "Ich verstehe nicht", hätten sie mich erschossen oder, ich weiß nicht, was sie getan hätten. Obwohl die Deutschen in der Lage waren mir alles wegzunehmen - fast alles, außer meinem Leben -, ließen sie mich am Leben. Wissen Sie, alles, was man mir wegnehmen konnte, haben sie mir weggenommen - meine Seele konnten sie nicht wegnehmen. Meine Seele, meine Integrität, mein inneres Selbst konnten sie mir nicht nehmen. Das konnte ich mir bewahren. Wir alle, wissen Sie, wir alle haben die Fähigkeit, sadistisch und grausam zu anderen Menschen zu sein. Wir schaffen es, es nicht zu tun, aber ein destruktives Potenzial steckt in uns allen. Ich glaube tatsächlich, dass Menschen geboren werden - nun, sie werden weder gut noch schlecht geboren und dass die Bösartigkeit ein Ergebnis der Art und Weise ist, wie jemand als Kind behandelt wurde. Ich glaube, wenn man als Kind gut behandelt wird, kann man nicht zum Hitler werden.
Quelle: ‘Holocaust survivor interview, 2017’, YouTube Channel 4 News, letzter Zugriff: 12. Juli 2022.