Erinnerungen sowjetischer Umsiedler*innen nach Kaliningrad
Anatoli Pljuschkow, geboren 1922, im Kaliningrader Gebiet seit 1947
Wir Parteifunktionäre aus Leningrad reisten alle mit demselben Zug. Die meisten der in die Region entsandten Parteimitarbeiter*innen waren ledig, so auch ich. [...] Die Stimmung war fröhlich. Ich habe zwei Sätze von meinen Mitreisenden behalten, die unsere Denkweise am deutlichsten veranschaulichen. Eine junge Frau, an deren Namen ich mich nicht erinnere und die ebenfalls im Auftrag der Partei nach Kaliningrad geschickt wurde, sagte: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir in der Zeit zurückreisen.“ In der Tat fühlten sich die meisten von uns, die den Krieg durchgemacht haben, als Träger der fortschrittlichen sowjetischen Kultur und Lebensweise. Europa schien uns eine rückständige und feindliche Domäne des Kapitalismus zu sein. Die Aussicht, die sowjetische Kultur nach Ostpreußen zu bringen, war sehr attraktiv. Gleichzeitig wussten wir fast nichts über unseren zukünftigen Einsatzort. Ein junger Offizier, der mit uns reiste, bemerkte: „Der russische Soldat, als er nach Europa gekommen ist, hat nicht eingesehen, dass er nicht zu Hause ist.“ Wir betrachteten das neu erworbene Land Kaliningrad nicht als etwas Fremdes, sondern als ein Gebiet, das erschlossen werden musste. Wir waren voller Optimismus und keine Aufgabe schien unlösbar.
Walentina Korabelnikowa, geboren 1935, im Kaliningrader Gebiet seit 1946
An die Reise selbst erinnere ich mich nur sehr vage, es ist nicht viel passiert, aber ich erinnere mich an den Vorfall am Bahnhof. Feierlich konnte man den Empfang nicht nennen: man ließ mich auf unserem einzigen Koffer sitzend warten (damals hatten alle nur einen oder zwei Koffer dabei, meistens das Nötigste) und ein Mann kam auf mich zu: „Mädchen, du sitzt auf meinem Koffer. Steh auf, ich hole ihn“, ich stand auf, er nahm den Koffer und ging. Auf diese Weise wurde die ganze Familie ihres gesamten Besitzes beraubt. ... Ich sah Deutsche, lebende Deutsche... Sehen Sie, es war Krieg, man sagte uns, die Deutschen seien sehr schlecht, sie seien gar ‚Unmenschen‘. [...] Es war ein Schock: sie entpuppten sich als normale Menschen, genau wie wir.
Elbrus Beljajew, geboren 1926, im Kaliningrader Gebiet seit 1947
Als ich hierher kam, sah ich einen Botanikprofessor von der Universität Königsberg, der durch den Botanischen Garten lief, sich die Tränen abwischte und sich verabschiedete. Er sagte: „Ich habe diesem Garten mein ganzes Leben gewidmet. Es ist einer der besten Gärten der Welt.“ Das war es wirklich. Der Garten war sehr gut gepflegt, schön. Es gab einzigartige Bäume aus der ganzen Welt. Die Unsrigen wussten diesen Schatz nicht zu schätzen. [...] Der Garten blieb herrenlos — und auch ohne richtige Pflege. Schließlich führte es dazu, dass alle Kultur- und Naturschätze nach und nach zerstört wurden.
Quelle: Meduza, „Zašla nemeckaja sem’ja, prosili chleba“: 70 let nazad Kenigsberg stal Kaliningradom: vospominanija pereselencev [„Eine deutsche Familie kam herein, sie baten um Brot“. Vor 70 Jahren ist Königsberg zu Kaliningrad geworden: Erinnerungen der Umsiedler], https://bit.ly/3EA2FYq, letzter Zugriff: 27.12.2021