Über den Leitfaden

Kristina Smolijaninovaitė Civil Society Forum e.V., Berlin, Deutschland

992 Wörter

Seit Anfang des Jahres 2020 setzt sich das Programm „Confronting Memories“ zum Ziel, einen Austausch über die Geschichte zu fördern, um Brücken zu bauen und den Frieden zu stärken. Das methodische Grundprinzip dabei lautet Multiperspektivität.1 Dieser Ansatz befähigt Schüler*innen, alternative Perspektiven auf die Geschichte in Ergänzung zu ihrer eigenen nachzuvollziehen und nachzuempfinden. Im Rahmen des Programms wurden bisher verschiedene Medienprodukte entwickelt und Veranstaltungen durchgeführt, die diesem Zweck dienen. Zum einen die Ausstellung „Different Wars“, die Unterschiede in der Darstellung des Zweiten Weltkriegs in Schulbüchern aus sechs Ländern zeigt, zum anderen Kurzfilme zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und zum aktuellen Krieg in der Ukraine. Auch öffentliche Diskussionen, Webinare, Sommerschulen für Geschichtslehrerinnen und -lehrer finden statt. Mit diesem pädagogischen Leitfaden liegt nun ein weiteres Produkt vor.

Am Programm wirken Geschichtslehrer*innen, Historiker*innen, Akteure der Zivilgesellschaft und der non-formalen Bildung sowie kreative Produzent*innen aus ganz Europa mit.2 Unser Ziel ist es, eine gemeinsame Basis zu finden, auf der wir unserer Aufgabe, Empathie füreinander zu entwickeln, nachkommen können. Diese Aufgabe ist heute, vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die eine Polarisierung der politischen Standpunkte sowie zivile und militärische Konflikte in der Region ständig mit sich bringen, umso dringlicher geworden.

Dieser pädagogische Leitfaden widmet sich dem Zweiten Weltkrieg innerhalb Europas und dem Gedenken daran, da geteilte Erfahrungen mit diesem Konflikt sowie umstrittene historische Hinterlassenschaften uns alle weiterhin beeinflussen. Ein und derselbe Krieg wird in den verschiedenen Ländern unterschiedlich erinnert, was ein vielseitiges Spektrum an Gedenkkulturen und -praktiken entstehen ließ, die auf den jeweiligen nationalen Identitäten beruhen. Diese Unterschiede haben wiederum dazu geführt, dass die Geschichte des Krieges in den vielen Staaten und Regionen Europas voneinander abweichend erzählt und unterrichtet wird. In Westeuropa handelt die Erzählung üblicherweise von einem Aggressor, Nazi-Deutschland, und einer Koalition von Alliierten, die gegen ihn kämpften; im Mittelpunkt des Gedenkens steht dabei der Holocaust. In Mittel- und Osteuropa ist das Bild komplexer. Für viele Staaten bedeutete die Befreiung durch die Rote Armee die Unterwerfung unter eine andere totalitäre Herrschaft. Daher unterscheiden sich Gedenkpraktiken in Mittel- und Osteuropa, die auf die Verbrechen des Stalinismus fokussiert sind, grundlegend von denen im Westen.

Die eigene nationale Geschichte und Identität bilden in der Regel den Bezugspunkt und das Hauptziel des Geschichtsunterrichts an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Unser Programm setzt aber auf die Multiperspektivität als bestimmendes Prinzip bei der Auswahl und Entwicklung von Unterrichtsmaterialien zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs, um über rein nationale Geschichtsdarstellungen hinauszugehen. So bietet dieser Leitfaden Instrumente, um eine komplexe Sichtweise auf historische Ereignisse anhand ausgewählter Gedenkstätten und Denkmäler des Zweiten Weltkriegs in Europa zu vermitteln.

Wir haben uns für die Arbeit an Gedenkstätten entschieden, weil ihre Integration in die natürliche oder städtische Umgebung eine greifbare Verbindung zur Vergangenheit bietet. Physische Begegnung und Interaktion ermöglichen den Schüler*innen eine unmittelbare Erfahrung der Geschichte. Eine Gedenkstätte macht es einem leicht, sich zu konzentrieren und sich davon zu überzeugen, dass die Geschichte nicht nur eine abstrakte Vorstellung, sondern konkret fassbar ist.

Das Lernen über die Vergangenheit kann herausfordernd sein. Während die Geschichte von Historikern durch sorgfältige und rationale Forschung mit dem Ziel einer objektiven Nacherzählung konstruiert wird, ist die Erinnerung subjektiv und emotional. Gedenkstätten und Erinnerungsorte gehen üblicherweise aus dem öffentlichen Gedächtnis von Kollektiven auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene hervor. Durch ihre Wichtigkeit für eine bestimmte Gemeinschaft werden sie als verehrungswürdige Orte gekennzeichnet, gegenüber denen die Menschen sich verpflichtet fühlen (müssen). Darüber hinaus stehen Gedenkstätten in engem Zusammenhang mit Gedenkzeremonien und -ritualen und sind somit ein lebendiger Ausdruck der Politik eines Staates oder eines politischen Regimes, zu dem sie gehören.

In diesem Leitfaden werden auch Debatten um die sich überschneidenden und widersprüchlichen Gedenkstättenlandschaften des Zweiten Weltkriegs in Europa erörtert und Schwierigkeiten bei der Gestaltung einer gesamteuropäischen Erinnerung an den Krieg aufgezeigt (siehe Kapitel 2). Im Vordergrund der Debatten steht die Frage, ob eine einheitliche europäische Erinnerung überhaupt möglich ist. Der Leitfaden bietet mehrere Strategien hierzu und betont vor allem die Notwendigkeit, die Vielfalt der Erinnerungen zu akzeptieren und sich darauf einzulassen; dies ist ein Ansatz, der die Entwicklung von Empathie gegenüber dem Anderen erfordert und eine selbstkritische Reflexion zu einer Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung macht. Darüber hinaus enthält Kapitel 2 einen umfassenden Überblick über die europäische Gedenkstätten- und Museumslandschaft mit Fallbeispielen für Erinnerungsstrategien, -grenzen und -misserfolge, den Geschichtslehrende hoffentlich hilfreich und bereichernd finden.

Geschichtslehrer*innen und Historiker*innen haben gemeinsam an diesem Leitfaden gearbeitet und im Hinblick auf solche Herausforderungen acht aussagekräftige Beispiele aus Deutschland, Moldawien, Polen und Russland zusammengetragen, um ein kontrastreiches Bild von Gedenkstätten des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen. Die Aufgabe bestand nicht darin, die bekanntesten Gedenkstätten vorzustellen, sondern vielmehr darin, Lehrkräften einige inspirierende Beispiele zu liefern, die die Vielfalt der aus diesem Konflikt hervorgegangenen Gedenkstätten veranschaulichen. Die ausgewählten Beispiele lassen sich in die folgenden vier Kategorien einteilen, die auch in Kapitel 2 näher erläutert werden:
  1. Offizielle Denkmäler für kriegerische Auseinandersetzungen
  2. Offizielle Gedenkstätten für Opfer
  3. Museen, die historischen Ereignissen gewidmet sind
  4. Inoffizielle Gedenkstätten und private Initiativen
Ergänzend enthält dieser Leitfaden methodische Empfehlungen für die Nutzung von Gedenkstätten als Lehrmittel, die Pädagog*innen anwenden und an ihren eigenen spezifischen Vermittlungskontext und ihr Land anpassen können. In Kapitel 3 „Methodische Empfehlungen“ werden drei Vermittlungsstrategien vorgeschlagen:
  1. Lernaktivitäten im Klassenzimmer
  2. Lernaktivitäten im Klassenzimmer und beim Gedenkstättenbesuch
  3. Besuchsbezogene Lernaktivitäten
Mit der Veröffentlichung dieses Leitfadens für die didaktische Vermittlung des Zweiten Weltkriegs durch die Nutzung von Gedenkstätten hoffen wir, den Dialog zwischen Geschichtslehrer*innen und Akteuren der non-formalen Bildung über die Multiperspektivität in Bezug auf die Erinnerung an diesen globalen Konflikt voranzutreiben und ihr Bewusstsein dafür zu schärfen. Als Folge soll es Prozesse der Vertrauensbildung über Grenzen hinweg geben, die über die Grenzen nationaler Narrative hinausgehen. Neben den gedenkstättenbezogenen Lernaktivitäten bietet dieser Leitfaden Empfehlungen, die für den Geschichtsunterricht im Allgemeinen, aber auch für Workshops und ähnliche Bildungsangebote angepasst werden können.

Die Auseinandersetzung mit unbequemen Episoden der Geschichte im Rahmen unserer schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit kann Wege zur Erleichterung kritischer und offener Diskussionen über unsere nationalen Geschichten öffnen, um Grundwerte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern.

Der Leitfaden liegt in vier Sprachen vor (Englisch, Deutsch, Polnisch und Russisch), um ihn für verschiedene Gruppen von Pädagog*innen möglichst ertragreich und zugänglich zu machen.

1 Multiperspektivität bedeutet: 1. Vielfalt gegenwärtiger Deutungen eines historischen Ereignisses bzw. Zeitraums; 2. Veränderung der Perspektiven auf ein bestimmtes historisches Ereignis bzw. einen bestimmten historischen Zeitraum im Laufe der Zeit (Vergangenheiten-Gegenwarten-Zukünfte). Eine ausführliche Diskussion des multiperspektivischen Ansatzes folgt in Kapitel 3.

2 In diesem Leitfaden sowie in allen Projekten des Programms „Confronting Memories“ wird mit Europa ein geografisches Areal gemeint, das alle Länder von Norwegen bis Griechenland und von Portugal bis Russland umfasst. 2023 wird das Programm um die Länder der Östlichen Partnerschaft wie Armenien und Georgien erweitert.

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