Tagebücher / Memoiren

Anna K. , Russland

13-16 Jahre

45 minuten

Anna Iwanowna Nekrasowa

1927 im Dorf Petrowskoje geboren, Gemeinde Chomutowski, Region Kursk, Sowjet-Russland.

1941

22. Juni
„Der Krieg ist da“, flüstern meine Eltern. Krieg... Was ist das? Krieg ist schrecklich, die Menschen haben Angst davor. Und ich habe auch Angst. Ich schaue verstohlen meine Mitmenschen im Dorf an: Ihre Augen strahlen Bestürzung und Angst aus.

10. Juli
Vater ist heute an die Front gegangen. Der Abschied war so schwierig! Mama lag voller Tränen schwer auf seinen Schultern. Als sie aufhörte zu weinen, schaute sie Vater mit versteinerter Miene an. Vater wollte uns alle umarmen: mich, Sascha und Nadia. Angst erfüllt mein Herz: Werden wir uns je wiedersehen?

5. September
Heute kam der erste Brief von Vater!!! Wir sind alle so glücklich! Mama las ihn laut vor, sie hielt die wertvolle Seite ganz fest in der einen Hand und wischte sich die Tränen mit der anderen weg. Die Tränen rollten sintflutartig von ihrem Gesicht. Dann faltete Mama den Brief zu einem Dreieck und legte ihn auf den Tisch. Sascha und ich lasen ihn erneut. Nadia kann jedoch noch nicht lesen. Sie hob ihn auf, drehte ihn um, streichelte ihn mit ihrer schmalen Hand und legte ihn zurück. Vater schrieb: „Wenn ich euch nur ganz kurz sehen könnte, nur für eine Sekunde.“

14. September
Wir leben in ständiger Angst. Die Deutschen haben uns bereits erreicht. Gestern kamen meine Freunde und ich an der Schule vorbei, und mich schockierte die deprimierende Umgebung: leere Klassenzimmer, sich abblätternde Wände, grau Decken. Wann wird das alles enden?

21. November
Heute ist ein Feiertag, aber es gibt keine Gäste oder Geschenke. Es ist keine Zeit zum Feiern. Viele Freunde haben ihre Väter verloren, es gibt nur Begräbnisse...

1942

6. Januar
Der Winter ist da. Es ist kalt... Wenn ich mal ein heißes Mittagessen herunterschlinge, wünsche ich mir einfach nur mehr, obwohl ich weiß, dass es nur ein Traum ist...

27. Januar
... Ich habe eine schwierige Entscheidung treffen müssen: Ich habe meinen langen Zopf abgeschnitten. Ich konnte mich unter den Verhältnissen nicht mehr darum kümmern...

11. Februar
Heute haben Saschka und seine Freunde heimlich Waffen an die Par- tisanen übergeben. Sie haben sie in den Wäldern am Dorf aufgesammelt. Wir haben Mama nichts erzählt, sie würde sich nur Sorgen machen. Letztendlich würden die Deutschen niemanden verschonen, die den Partisanen helfen.

5. März
Es ist bereits Abend, und mein Herz schlägt noch bis in den Hals. Ich hatte solche Angst. Am Nachmittag, als weder Mama noch Sascha zu Hause waren, kamen zwei Deutsche in unser Haus. Sie stapften im ganzen Zimmer herum, schauten hinter die Vorhänge und im Keller und sagten: „Partisanen! Partisanen!“ Ich wusste sofort, wonach sie suchten, aber ich hatte zu viel Angst, irgendetwas zu sagen. Meine kleine Schwester begrub ihr Gesicht in meinen Knien und bedeckte ihre Ohren mit ihren Handflächen. Die Deutschen fanden nichts Auffälliges, gingen wieder und nahmen Essen vom Tisch.

1943

20. Juli
Ich habe schon lange nichts mehr in mein Tagebuch geschrieben. Es ist viel passiert. Die Deutschen wurden aus unserem Dorf vertrieben. Wir haben so unter ihnen gelitten! Unser Saschka ist an die Front gegangen. Sein Traum wurde wahr. Er hatte sein Alter um ein Jahr erhöht: Im Rekrutierungsbüro gar er sich als 18-Jähriger aus. Mama ist voller Sorge. ... Es gibt auf dem Feld und im Garten viel Arbeit. Und alle Frauen, Kinder und Älteren arbeiten. Die Pferde wurden durch Kühe ersetzt. Die anderen Kinder und wir werden wie Erwachsene behandelt, und uns wird verantwortungsvolle Arbeit übertragen. Wir tun unser Bestes.

1944

27. August
Heute Morgen hat meine Mutter ein Stück grober, gelber Kaliko aus der Truhe genommen und mir ein Kleid für meinen Geburtstag genäht. Ich bin jetzt 17! Ich bin glücklich, was für ein schönes Geschenk. Mit meinem neuen Kleid vergesse ich den Krieg für ein paar Sekunden, und mein Kopf war voller Träume über die Zukunft, voller Glück und Liebe.

1945

9. Mai
Tolle Nachrichten: der langersehnte Sieg! Alle sind am Jubeln! Diesen Tag haben wir uns so lange erträumt! Mama schaut ständig auf die Straße: Sie schaut, ob Vater kommt. Ich bin so glücklich: Papa lebt, Sascha lebt! Ein neues Leben beginnt...

Quelle: Tagebuch der Kriegsjahre von Anna Iwanowna Nekrasowa (Bewohnerin des Dorfs Petrowskoje), bearbeitet von E. Kaschljakowa and M. V. Maksimowa // Schulbelegarbeit, Sekundarschule Olchowskaja, Gemeinde Chomutowski, 2015.

Lew Poscherstnik

Geboren 1924 in Tula, Bewohner von Tula. Lew schrieb Tagebuch, bevor er zur Front ging, er war Student und Mitglied des Komsomol.

22. Juni
Heute hörte ich im Radio die Rede von Molotow, dass die deutschen Truppen die Grenze der Sowjetunion überschritten haben. Das Kriegsrecht wurde in Tula und vielen anderen Städten ausgerufen. Mein freier Tag war eine Katastrophe. Ich ging spazieren, spielte Billard und Bingo. Ich habe Gorkis Geschichte Ein Geständnis gelesen.

23. Juni
Am Institut wurde heute nach der Arbeit eine Versammlung wegen des Krieges abgehalten. Abends ging ich spazieren.

24. Juni
Ich habe einen Entwurf am Institut angefertigt. Nach der Arbeit ging ich spazieren und spielte Billard. Um elf Uhr abends wurde ich ins Bezirkskomitee des Komsomol gerufen. Der Sekretär erzählte mir, dass ein Kommando organisiert werden würde, um die feindlichen Angreifer zu bekämpfen. Ich meldete mich freiwillig. Es ist stockdunkel in der Nacht in Tula.

27. Juni
Nach der Arbeit ging ich spazieren und spielte Gorodki und Billard. Am Abend wurde ich ins Bezirkskomitee des Komsomol gerufen, wo ich mit anderen Funkern bis 2 Uhr morgens im Dienst war.

28. Juni
Am Institut habe ich detaillierte Zeichnungen eines ausrangierten Rollwagens angefertigt, der Holz zu Minen brachte. Heute habe ich mein erstes Gehalt bekommen: 188 Rubel. Ich war abends spazieren.

30. Juni
Ich habe meine Zeichnung der Maschine etwas verkleinert. Nach der Arbeit haben sie Rationsbücher ausgegeben. Mir wurde Geschäft Nummer fünf zugewiesen. Ich ging spazieren, spielte Billard.

2. Juli
Um vier Uhr morgens wurde ich ins Bezirkskomitee des Komsomol gerufen. Ich zerstörte die Vorladungen: Ich war im Dorf Kirowski. Nach der Arbeit am Institut ging ich spazieren und las Geschichten von Soschtschenko.

5. Juli
Ich ging wie immer um halb neun zur Arbeit. Ich habe weiter detaillierte Zeichnungen eines Rüttlers angefertigt. Nach der Arbeit habe ich zwei Stunden Gräben ausgehoben. Abends war ich an der Wasseranlage schwimmen.

8. Juli
Nach der Arbeit hatten wir Training gegen Luft- und chemische Angriffe. Ich war spät zu Hause. Ich ging spazieren. Heute bin ich der Bürgerwehr beigetreten.

11. Juli
Ich habe gar nicht geschlafen, aber bin wie gewohnt früh zur Arbeit gegangen. Um 7 Uhr abends habe ich am Militärtraining der Bürgerwehr unseres Instituts teilgenommen. Ich war mit einem Freund an der Wasseranlage schwimmen. Wir waren um 11 Uhr abends zu Hause.

12. Juli
Arbeit am Institut, danach Militärtraining der Bürgerwehr. Ich ging abends spazieren. Heute Abend gab es eine Warnung eines Luftangriffs.

14. Juli
Heute bin ich 17 Jahre alt geworden. Ich arbeitete bis 17 Uhr im Institut. Ich habe mein Gehalt bekommen. Ich war spazieren und schwimmen.

16. Juli
Am Morgen gab es einen Luftangriff, am Ende ging ich zum Bezirkskomitee des Komsomol, und mir wurde eine persönliche Empfehlung gegeben. Am Abend las ich Über die Zeit der Wirren von A. Tolstoi. Ich war schwimmen an der Wasseranlage.

1. August
Ein langweiliger Tag. Ich war spazieren. Ich stellte mich am Abend für Pfefferkuchen an. Ich las ein Buch.

9. August
Ich war spazieren, ging zur Schule, wo sich niemand beschwerte, dass ich während einer Luftangriffswarnung in der Stadt herumlaufe. Ich schrieb mich in der Feuerwehr ein. Am Abend habe ich Die Geschichte meines Zeitgenossen gelesen.

1. September
Am Morgen hatte ich Hanteltraining. Ich war spazieren. Ich habe Die Geschichte meines Zeitgenossen weitergelesen, und um vier ging ich zur Schule: Das neue Schuljahr fing an. Wir haben nun an den Abenden Schule, in den Gebäuden der Ingenieursschule. Nach der Schule war ich abends noch mit den Kameraden schwimmen und spazieren.

2. September
Ich hatte morgens Hanteltraining. Ich habe Hausaufgaben gemacht, war spazieren, las Mein Zeitgenosse, und um fünf ging ich in die Schule. Am Abend war ich noch mit meinen Kameraden an der Wasseranlage schwimmen, und ich war noch spazieren.

8. September
Ich hatte morgens Hanteltraining. Ich habe Hausaufgaben gemacht, war spazieren, las Mein Zeitgenosse, und um fünf ging ich in die Schule. Am Abend war ich noch mit meinen Kameraden an der Wasseranlage schwimmen, und ich war noch spazieren.

13. September
Ich hatte morgens Hanteltraining. Von 11 bis 16 Uhr war ich am Schießstand, wo unsere Einheit im Schießen und Granatenwerfen geschult wurde. Ich habe noch Die Geschichte meines Zeitgenossen gelesen. Ich habe mir einen Bericht vom Vorsitzenden des Zentralkomitees des Komsomol im Gebäude RU Nr. 1 angehört, der den bisherigen Kriegsverlauf gegen den deutschen Faschismus zusammenfasste. Ich war abends spazieren.

18. September
Von 6 bis 10 Uhr und von 18 bis 22 Uhr war ich im Wachdienst der örtlichen Parteizentrale. In den Dienstpausen ging ich spazieren und las Die Geschichte meines Zeitgenossen. Ich verbrachte die Nacht in den Barracken und schaute den Film Das Wunderpferdchen.

Quelle: https://prozhito.org/person/2576

Walentina Schischlo (geborene Danilowa)

Am 10. Februar 1936 in eine Militärfamilie im Dorf Belitsa geboren, Region Shlobin, belarusische SSR.

Krieg

Während der Besatzung lebte die Familie Danilow mit den Eltern von Walentinas Vater, Fjodor Fjodorowitsch Danilow, in ihrem Haus in Belitsa. Im Jahr 1943 zwang das deutsche Militär sie, in die Ställe umzuziehen. Die Ställe boten Unterkunft für Zivilisten, die aus Smolensk vertrieben wurden, sowie für die örtliche Bevölkerung von Belitsa. Walentina Fjodorowna war acht Jahre alt, als ihre Mutter Nina Fjodorowna und ihre fünf Kinder von der Wehrmacht in ein Lager bei Osaritschi im März 1944 deportiert wurden. Die Familie Danilow war drei Tage unterwegs, verbrachte die Nächte unter freiem Himmel auf einem mit Stacheldraht eingezäunten Feld. Man nannte die lange Reise nach Osaritschi „die Straße in den Tod“. Auf dem Weg ins Lager erschossen die Deutschen diejenigen, die nicht mehr weiterlaufen konnten.

Das Konzentrationslager Osaritschi in der Region Gomel war offiziell nur zehn Tage in Betrieb. Auf Anordnung der Wehrmacht wurden etwa 50.000 Zivilisten auf eine kleine Fläche von Marschland gepfercht. Sie kamen aus Gomel, Mogiljow und Polesien, belarusische Regionen, als auch aus Regionen wie Smolensk und Orjol in Russland. Die Nazis brachten wissentlich Patienten mit Typhus und anderen Erkrankungen nach Osaritschi. Die Lagerhäftlinge infizierten sich, in der Hoffnung, dass die Infektionen auch die entfernteren Einheiten der Roten Armee erreichen würden. Im Lager starben die drei jüngeren Brüder von Walentina: Garik, Marat und Boris. Walentina und ihre Schwester Klara überlebten dank ihrer Großmutter. Walentina Schischlo erinnert sich:

„Als die Leute das Lager betraten, suchten sie sich zum Sitzen immer eine Art Hügel, damit sie nicht im Morast sitzen würden. Kein Essen, keine Hilfe, nichts... Sie verspotteten uns. Sie legten Brot auf den Tisch, das vermint war. Die Menschen litten Hunger. Sie wollten nur eine Brotkruste haben, und das Brot explodierte. Ich sah es mit eigenen Augen...

Sie wussten, dass wir sterben würden. Und wir starben auch: Wir starben einen furchtbaren Tod. Hunger, Kälter und Typhus. [...] Ich erinnere mich, wie mein Großvater neben uns lag. Am Abend sprachen sie noch, und am Morgen war er tot. Er trug eine Jacke, und viele zogen an ihm von allen Seiten, um die Jacke zu bekommen. Meine Großmutter wollte die Kinder daraufsetzen. Dank ihr überlebten Ljalja und ich, aber die Buben starben, und wir beerdigten sie in Teppichen: Garik, Marat und Boris. [...] Mama sagte, wir suchen nach Teppichen, in denen wir sie einpacken könnten, den Boden gruben wir mit eigenen Händen aus, damit wir sie beerdigen konnten.

Wir liefen nicht im Lager herum. Wenn jemand versuchte, ein Feuer zu machen, kamen sofort die Schüsse von den Soldaten. Ich war krank, sehr krank. Meine Großmutter legte eine Jacke unter mich. Ich lag darauf, ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Mit jedem Jahr wird die Erinnerung etwas schwächer, und ich kann nicht mehr so viel darüber sagen, was mir passiert ist. Ich hatte keine Kindheit. Der Krieg fraß sie auf. Im Lager versuchten meine Mutter, Großmutter, Tante und Brüder so gut es ging zu überleben. Der März war kalt: Es regnete oder schneite den ganzen Tag, des Nachts kam der Frost. Es gab im Lager keine Gebäude, wir waren unter freiem Himmel. Tag und Nacht wurden wir von deutschen Soldaten von Wachtürmen aus beobachtet, sie hatten Maschinengewehre. Wenn sich jemand dem Stacheldraht zu nähern versuchte, schossen sie ohne Vorwarnung. Viele Tote und Verwundete lagen am Zaun. Es gab kein Essen, kein Wasser und keine warme Kleidung. Es gab sehr viele Typhus-Erkrankte, und es verbreitete sich sehr schnell. Die Menschen starben. Die Toten lagen neben den Lebenden. Meine drei jüngeren Brüder blieben für immer im Marschland. Es waren zehn Tage in der Hölle. Am 19. März wurde das Lager von sowjetischen Truppen befreit. Ich nenne es meinen zweiten Geburtstag.“

Nach dem Krieg

Nach dem Krieg beendete Walentina die Sekundarstufe und ging an eine technische Schule, die sie ebenso erfolgreich abschloss. Sie arbeitete als Technikspezialistin und später als Lehrerin. Sie führte neben ihrer Arbeit auch Exkursionen an der Gedenkstätte von Katyn durch und erzählte den Besuchern von den Osaritschi-Lagern. Seit den Neunzigern hat Walentina Schischlo regelmäßig die Gedenkstätte in Osaritschi besucht und in Schulen zu diesem Thema gesprochen. Seit 2010 ist sie die Vorsitzende der Minsker Vereinigung von Osaritschi-Gefangenen. Im Jahr 2015 gab Walentina Fjodorownas Enkelin Inna einen Brief von der Gedenkstätte und des Museums von Dachau an Walentina, der bestätigte, dass Walentina Fjodorownas Vater, Fjodor Fjodorowitsch Danilow, von der SS auf dem Übungsgelände Hebertshausen ermordet wurde.

Quelle: Elektronisches Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt Leonid Levin, Minsk, Belarus http://zeitzeugenarchiv.gwminsk.com/ru/archiv/ozarichi/shishlo-valentina

Sinaida Gorjatschko

Am 11. Juni 1931 geboren, lebte im Dorf Wysotschany, Gemeinde Liosno, Region Witebsk, belarusische SSR.

Vor dem Krieg

Wir waren eine Familie der Arbeiterklasse. Papa war Tischler, und Mama arbeitete an der Karl-Marx-Flachsmühle in der Stadt Wysotschany, Gemeinde Liosno.

Krieg

Ein heißer Tag im Juni 1941: Wir kehren mit einem Strauß Wildblumen nach Hause, hören Frauen weinen. So begann der Krieg.

Das Leben war sehr schwer. Die Fabrik wurde zerstört, und die Maschinen wurden nach Russland gebracht, damit die Nazis sie sind in die Hände bekommen. Wir hatten keinen eigenen Gemüsegarten, und wir lebten von nur einem Gehalt. Mama ging durch die Dörfer und verkaufte Kleidung (Anmerkung: für Nahrungsmittel). Im Sommer ernährten wir uns nur von Sauerampfer und Beeren. Und manchmal nahmen wir Kartoffelschalen, um aus ihnen Flachbrot zu backen. Es gab im Dorf auch Unruhen. Viele Menschen, die von den sowjetischen Behörden vertrieben wurden, kehrten zurück und gingen zur Polizei. Sie kollaborierten mit den Faschisten.

Im Jahr 1943 gab es heftige Auseinandersetzungen in unserer Umgebung, und die Deutschen mussten sich zurückziehen. Sie zwangen uns, das Dorf zu verlassen, also mussten wir unsere Häuser zurücklassen. Es war ein kalter Herbst. Wir gingen zu Fuß und hielten für eine Nacht in einem Dorf an. Die Deutschen wollten die Kinder mit dem Auto mitnehmen, aber Mama lehnte das ab.

Wir mussten nach Masjukowschtschina gehen, wo es ein Lager für Kriegsgefangene und Vertriebene gab. Von dort wurden wir in Viehwagen geladen, wo es nach Deutschland ging. Als wir die Grenze überfuhren, schlugen die Wagentüren auf. Schlammbrocken flogen uns zusammen mit den Rufen „Russenschweine“ entgegen. Wir liefen entlang der Straßen in Deutschland zusammen mit einigen Mitgliedern der Hitler-Jugend. Wir verbrachten die Nächte in Gebäuden für Nutztiere. Dort war es warm, da die Deutschen die Tiere sauber- und warmhielten.

Sie brachten uns nach Siegen in Nordrhein-Westfalen, wo wir sortiert und in Barracken gebracht wurden. Familien lebten zusammen, sie wurden nicht getrennt. Sie nahmen mich sofort mit zur Fabrik. Es gab dort etwa sieben Jugendliche, 12-13 Jahre. Der Vorarbeiter, und ich erinnere mich an seinen Namen, Oscar Biller, sagte: „Nach einer Woche seid ihr Experten.“ So bin ich zur Kinderarbeit gekommen, mit 12 Jahren. Ich musste Metallrohre schweißen. Ich kann wirklich sagen, dass der Vorarbeiter ein guter Mann war. Er hat uns nicht geschlagen, aber er schimpfte uns aus, wenn wir eine schlechte Naht schweißten. Er verstand wohl, dass es für Kinder eine schwierige Situation ist.

Mein Vater hatte Schwerstarbeit zu verrichten: Er konnte kaum seine Füße in seinen Holzclogs fortbewegen. Er tat mir sehr leid, da unser Essen aus einer Kelle Kohlrabibrühe und ein paar Esslöffeln grünem Spinat bestand. Und da wurde uns schon gesagt, dass wir Glück haben. Das Essen war wohl zuvor deutlich schlechter gewesen.

Viele junge Menschen starben. Die Polizei überwachte die Barracken. Ich erinnere mich noch gut an Otto und Wilhelm. Otto war jung und schrie sehr viel und fuchtelte mit einem Stock herum, aber Wilhelm verprügelte uns viel lieber als Otto es tat. Mein Vater wollte während der US-Luftangriffe nicht in den Bunker. Er meinte, es sei besser zu sterben, als dieses Daseins noch weiter zu verlängern. Vor der Befreiung wurden wir in den Bunker gepfercht, der abgeschlossen wurde. Es gab nicht genug Sauerstoff, und wir erstickten langsam. Mama, Papa und ich verabschiedeten uns voneinander und bereiteten uns auf den Tod vor. Ein Gefangener fand jedoch einen Weg entlang der Bäche, die aus den Bergen kamen, und nahm uns mit. Wir schafften es durch einen engen Gang hinaus, der ziemlich weit in den Berg reichte.

Als wir aus dem Bunker kamen und frische Luft atmeten, fielen wir hin und wurden bewusstlos. Nach einer Weile wachten wir auf und sahen Autos mit US-Soldaten. Am gleichen Tag verließen wir das Lager. Wir wurden in den Schwarzwald gebracht, wo wir eine Woche an einer US-Basis verbrachten. Wir wurden mit Erbsensuppe ernährt.

Nach dem Krieg

Wir wurden unseren eigenen sowjetischen Truppen ausgeliefert, registriert und in unser Heimatland überstellt. Unser Dorf war abgebrannt worden. Wir fanden eine Erdhöhle im Dorf Buraki, die wir zu unserem Zuhause machten. Mutter und Vater arbeiteten im Torfabbau. Ich ging zur Schule. Ich wurde in die fünfte Klasse eingestuft, weil ich die vierte Klasse während des Krieges beendet hatte. Wir litten erneut Hunger. Es gab ein Feld mit gefrorenen Kartoffeln, das nicht abgeerntet wurde; Wir sammelten sie auf und buken aus ihnen Flachbrot.

Quellen: „Memory of the Heart“. Memoiren- Auszüge bearbeitet von M. Bogdan, Minsk, 2008. Elektronisches Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt Leonid Levin, Minsk, Belarus. http://zeitzeugenarchiv.gwminsk.com/ru/archiv/workers/goryachko-zinaida

Krystyna Markówna

Aus Przemyśl, Polen.

Im Juni 1942 war das Lyzeum von Krzemieniec voller junger Menschen und ihren Eltern. Es war Schuljahresende. Es gab Auftritte, Präsentationen und Zertifikate wurden ausgeteilt. Wer hätte gedacht, dass diese Türen so lange für Schüler geschlossen sein würden?

Die Deutschen nahmen über die Ferien Krzemieniec ein. Das Lyzeum wurde zu einem Krankenhaus umgebaut. Wir durften es nicht mehr betreten. Die Besatzer türmten Papier- und Bücherberge aus der Bibliothek auf, und alles wurde verbrannt. Keiner der Verantwortlichen dachte über die Bildung der jungen Menschen nach.

Irgendwie habe ich es geschafft, nicht arbeiten zu müssen. Ich wollte lernen, aber wo? Es gab noch eine offene Schule, die auf Ukrainisch lehrte, aber Polen waren dort nicht willkommen und wurden teilweise schikaniert. Ich lernte also zu Hause unter Aufsicht meiner Mutter. Das hielt nicht lang, weil sie dann zur Arbeit musste, und ich musste mich um das Haus kümmern. Ich las Bücher, kopierte aus Arbeitsheften und löste Mathematikaufgaben, wenn ich freie Zeit nach der Hausarbeit hatte, damit ich mein Schulwissen nicht vergaß.

Eines Tages besuchten mich Freunde, die mir sagten, dass sie auch lernen würden. Natürlich musste das ein Geheimnis bleiben. Der Neid übermannte mich. Sie durften lernen, ich aber nicht. Als Mama von der Arbeit zurückkam, erzählte ich ihr alles, und ich fragte sie, ob ich zusammen mit meinen Freunden lernen könnte. Sie willigte ein, und wir gingen später zusammen zum Haus meines Freundes, wo der Unterricht stattfand. Ich wurde in die Klasse aufgenommen.

Wir waren sieben Mädchen und vier Jungen, und wir wurden von Professor Karol Lach unterrichtet. Er war ein kleiner Mann mit einem Zwicker und voller Wissen. Wir hörten seinen Ausführungen zur Literatur und Geschichte sehr gern zu. Die Mathematik- und Lateinstunden waren mühsamer.

Unser Unterricht fand zwischen 17 und 19 Uhr statt. Nach dem Unterricht trennten wir uns schnell und gingen nach Hause, um die Polizei nicht auf uns aufmerksam zu machen, die in den Straßen unterwegs war. Wir durften nur bis 19 Uhr draußen sein. Einmal warteten wir auf den Professor, aber er kam nie. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass er nicht kommen konnte, weil er beobachtet wurde. Er musste einen großen Kreis laufen und durch dunkle Gassen nach Hause.

Als das Haus meines Freundes unter Beobachtung stand, wurde der Unterricht in einem anderen Haus abgehalten, oft auch bei uns. Unser Haus war sehr sicher, weil wir in einer Seitenstraße auf einem Hügel wohnten, in einer sogenannten „kollektiven Villa“. Die Deutschen drängten nicht so sehr auf diesen Ort, weil sie Angst hatten. Dies lief bis März 1943 so. Unser Unterricht fand ohne Schulbücher statt; alles war sehr einfach gehalten.

Die Behörden verhängten im Jahr 1943 den Ausnahmezustand. Unsere Treffen wurden durch regelmäßige Durchsuchungen, Razzien und strikte abendliche Ausgangsverbote unterbrochen. Die Eltern, besorgt um uns, und der Professor, besorgt um sich selbst, rieten uns, den Unterricht vorerst auf Eis zu legen. Diese Zeit zog sich so weit hin, dass alle aus unserer Gruppe Krzemieniec verließen und dann nur noch in Gedanken aus den unterschiedlichsten Ecken Polens zurückkehrten.

Quelle: Moje przeżycia wojenne. Wypracowania dzieci z 1946 roku // Instytut Solidarności i Męstwa im. Witolda Pileckiego. Seiten: 134-135. https://instytutpileckiego.pl/en/publikacje/moje-przezycia-wojenne-wypracowania-dzieci-z-1946-roku

Jadwiga O.

Geboren 1925 in der Gemeinde Drohobytsch, Woiwodschaft Lwiw, Polen.

Am 13. April 1940 wurde ich in eine Kolchose (landwirtschaftlicher Großbetrieb) in Kasachstan mit meiner Mutter Maria und meinem Bruder Jerzy deportiert, wo wir unter Androhung des Hungertods zur Arbeit gezwungen wurden. Ich konnte meine Familie mit dem erarbeiteten Geld nicht unterstützen, deshalb hatten wir oft kaum Essen und wir wurden immer schwächer. Die Arbeitsbedingungen waren sehr schwierig für mich, weil ich erst 15 Jahre alt war, und ich musste Schwerstarbeit leisten, um meine Familie zumindest etwas zu unterstützen. Mama konnte fast gar nicht arbeiten, sie war zu alt, und mein Bruder war noch ein Kind (10 Jahre), deshalb konnte er auch nicht arbeiten. Ich konnte also weder auf meine Mutter noch auf meinen Bruder zählen, wenn es um den Verdienst ging. Ich arbeitete überall: auf den Feldern, im Garten und in den Ställen. Die Feldarbeit war hart, weil ich jeden Tag die fünf Kilometer zum Arbeitsort laufen musste. Ich durfte auch nicht zu spät kommen, denn dann riskierte man den Arbeitsplatzverlust, was auch zu einem Gerichtsprozess führten konnte. In einem Prozess vor Gericht drohten einem oft mehrere Jahre hinter Gittern.

Die Lebensbedingungen waren sehr schlecht. Ich lebte in einem heruntergekommenen, alten Haus. Das Dach ließ jeden Regentropfen hindurch. Man kann sich vorstellen, wie es im Frühlingstau war. Ich arbeitete den ganzen Winter in den Ställen, was keine leichte Arbeit war. Ich musste 53 Tiere allein füttern und pflegen, darunter 15 Ochsen und 4 Kamele. Anfangs war es sehr hart für mich, weil ich vorher nie mit Pferden und Ochsen gearbeitet hatte, schon gar nicht mit Kamelen. Plötzlich musste ich das alles ganz allein machen. Ich wurde oft von einem Pferd getreten, Kamele bespuckten mich und ein Ochse verletzte mich mit einem Horn. Ich musste einmal zwei Wochen mit einer gebrochenen Rippe im Bett verbringen. Als es mir besser ging, musste ich zurück an die Arbeit. Niemanden interessierte, was mit mir passiert war. Ich nahm das alles ganz ruhig auf mich, ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass es nicht für die Ewigkeit war. Wir lebten in schrecklichem Elend, beruhigten einander mit der Hoffnung, dass es irgendwann zu Ende sein musste. Endlich kam der Tag, auf den wir so geduldig gewartet hatten: Der Tag der Befreiung wurde verkündet. Aber danach wollten sie uns nicht von der Arbeit befreien, und sie behandelten uns wie vorher. Das Schlimmste war, dass wir die Kolchose nicht verlassen durften. Ich ersparte meiner Familie weiteres Leid, indem wir eines Nachts flüchteten. Wer es nicht schaffte, blieb dort. Und sie leiden noch immer...

Quelle: War Through Children’s Eyes: The Soviet Occupation of Poland and the Deportations, 1939–1941 (Kindle Edition), by Jan T. Gross (Autor), Irena Grudzin’ska-Gross (Herausgeberin) mit einem Vorwort von Bruno Bettelheim, übersetzt ins Englische von Ronald Strom und Dan Rivers https://www.amazon.com/dp/B07VJJTCPB/ref=nav_timeline_asin?_encoding=UTF8&psc=1

Gerda Altpeter (geb. Rappaport)

1926 geboren, aus Essen, einer Stadt im Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen, Deutschland.

Gerdas Vater, Philip Rappaport, war ein Bauingenieur und Stadtplaner, der außerhalb Deutschlands bekannt war. Er war Direktor den Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk [Anm. d. Verf.: ein Verband, der sich mit der Planung und dem Bau von Bergbauge- meinden im Ruhrgebiet beschäftigte]. Gerda und ihre drei älteren Brüder wuchsen also in wohlhabenden Verhältnissen auf.

1933 endete jäh das sorglose Leben der Familie. Obwohl die Rappaports bereits in den 1880er Jahren zum evangelischen Glauben konvertiert waren, betrachteten die Nationalsozialisten Philipp nach den Kriterien ihrer Rassenideologie als Juden. Das bedeutete, dass Philipps Kinder so genannte “Mischlinge 1. Grades” waren. Wenige Monate nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten verlor Philipp seine Arbeit.

[...] Der Nationalsozialismus sickerte allmählich in den Alltag der Maria-Vechtler- Schule, in die Gerda damals ging, ein. ‘In der fünften Klasse waren fast alle Mädchen im ‘Jungmädchenbund’, und alle trugen Uniformen. Und wir mussten alle auf dem Flur antreten, wenn Hitler oder Mussolini oder Ludendorff, Göring oder wer auch immer kam [...]’

Gerda Altpeter musste es sich gefallen lassen, dass ihre Mitschüler fragten: ‘Warum bist du noch nicht eingetreten? Du gehörst doch auch zu den Jungmädel!’ Gerdas Eltern kauften ihr einen schwarzen Rock und eine schwarze Bluse, damit sie bei Umzügen neben den Mädchen in Uniformen nicht so auffiel. Dem Jungmädchenbund konnte sie jedoch nicht beitreten. „Ich fand das komisch, dass ich da nicht war und habe meine Mutter bestürmt: ‚Ich will da rein!’” Zunächst lehnte ihre Mutter einfach ab, ohne zu erklären, warum. „Und dann, in der sechsten Klasse, sagte sie mir schließlich, warum nicht: ‚Du kannst nicht. Dein Vater ist ein Jude. Deine Großeltern waren Juden.”’

Wegen ihrer jüdischen Vorfahren durfte Gerda Rappaport weder dem „Bund Deutscher Mädel“ noch dem „Jungmädelbund“ beitreten. [...] Für die Jungmädel war es offensichtlich, dass Gerda ausgeschlossen war und nicht dazu gehörte: „Die Schwierigkeiten mit den Klassenkameradinnen wurden immer schlimmer, weil die immer wieder drängten und immer wieder fragten. Und wie sie dann merkten, was los war, wurden sie teilweise auch sehr unangenehm.”

Der Heimweg nach der Schule war noch schlimmer. ‘Die Jungs von der Hitlerjugend haben auf der Straße allerlei fiese Sachen gemacht. Ich wurde ein paar Mal ziemlich verhauen, habe mich aber kräftig gewehrt. Im Stadtwald gab es viele Dornenbüsche. Ich bin da durch gelaufen und wer hinterher kam bekam die ganzen Stacheln ab.’ Zum eigenen Schutz nahm Gerda längere Wege in Kauf und ging nur noch über größere, belebte Straßen, denn da konnten in größter Not andere Passanten helfen.

Außerdem half ihr ein altes jüdisches Sprichwort, das ihr Vater ihr beigebracht hatte: „Mach deine Feinde zu deinen Freunden, und dann wirst du leben.” Fortan bot sie sich ihren Mitschülerinnen als Hausaufgabenhilfe an. Der Mutter eines Hitlerjugend-Führers aus der Nachbarschaft half sie beim Einkauf: „Mit ihr konnte ich durch die Straße gehen und die HJ-Jungen haben nichts gesagt, nur schräg geguckt. Und von da an wurde ich nie wieder angegriffen. Sie hat sich sehr bedankt und dann wohl dafür gesorgt, dass ich Ruhe habe.” [...]

Im Sommer 1942 hörten Gerda und ihr jüngster Bruder Werner-Karl vorzeitig auf, zur Schule zu gehen. Sie war sechzehn, als die Sommerferien begannen, und zu diesem Zeitpunkt gab es keine Anzeichen von irgendwelchen Änderungen. „Mit einem Mal kamen neue Gesetze”, die so genannten „Mischlingen” künftig einen Schulbesuch ab der 7. Klasse nicht mehr erlaubten. Gerda wurde unmittelbar nach Ferienende vom Prorektor der Maria-Wächtler-Schule in sein Büro bestellt. Wie der Direktor war er ein überzeugter Nationalsozialist, doch beide respektierten offenbar die Leistungen der sehr guten Schülerin. „Es tut mir furchtbar Leid”, entschuldigte sich der Prorektor. Das half Gerda aber nicht zurück in die Schule. „Das war furchtbar für mich. Ich habe dann versucht, alleine weiter zu lernen.” Aber sie musste nun arbeiten, als Teil ihres obligatorischen „Pflichtjahres“, und das hielt sie davon ab, weiter zu lernen. [...]

Die schwierige Situation von Gerda und ihrer Familie wurde durch den Bombenkrieg, der mit immer größerer Härte die Industriestadt Essen traf, immer weiter verschlimmert. Die Rappaports durften nicht in die öffentlichen Bunker und mussten die schweren Angriffe zu Hause im Keller überstehen. Die ständige Bombardierung, der nächtliche Schlafentzug und die permanente Bedrohung des eigenen Lebens habe sie, so Gerda Altpeter heute, körperlich und seelisch „fertig gemacht”.

Sie habe aber nichts davon bemerkt, dass zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Deportationen aus dem Rheinland in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten liefen. Doch die Bedrohung wurde auch für ihre Familie immer konkreter. Seit 1941 musste der Vater den „Judenstern” tragen: „Er ist kaum noch rausgegangen. Nur noch zu Gottesdiensten, und dann hat er es unter dem Kragen getragen.”

Nach Abschluss des Pflichtjahres trat Gerda zum 1. Oktober 1943 eine Stelle bei dem Essener Chemieunternehmen Goldschmidt AG an. Sie arbeitete als Gehilfin in einem Chemielabor an als kriegswichtig eingestuften Versuchen zur Veredelung von Eisen mit. Diese Arbeit sei „hochinteressant” gewesen. Doch schon Ende 1943 wurde ihre Abteilung aus dem stark bombardierten Essen in das österreichische Villach evakuiert. Gerda wechselte daraufhin die Abteilung und konnte so bei ihrer Familie bleiben.

Flucht vor der eigenen Deportation: „Ich sollte abtransportiert werden.“

Eines Tages ging Gerda zur Arbeit und wurde sofort zum Personalchef bestellt. Dieser teilte der verwunderten jungen Frau unvermittelt mit: „Sie sind krank! Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt.” Obwohl sie keineswegs erkrankt war, befolgte Gerda die Anweisung. Auch der Arzt bestätigte: „Ja, ja, Sie sind krank.” Er stellte Gerda ein Attest mit einer ihr unbekannten Krankheit aus und überwies sie zur Kur. Erst später erfuhr Gerda die Zusammenhänge: Ihr Hausarzt saß abends häufiger mit Gestapobeamten in der Gastwirtschaft, wo er von ihrer akuten Gefährdung erfuhr und den ihm bekannten Personalchef informierte, der wiederum Gerda warnte.

Unterstützt von diesen beiden Männern entging sie der offenbar unmittelbar bevor- stehenden Deportation und brach daraufhin gemeinsam mit ihrer Mutter zu Verwandten nach Bad Salzuflen auf. Da in den Kriegswirren das Zugnetz zusammengebrochen war, fuhren sie jedoch schließlich aber zur Familie ihres Onkels in Hiddesen.

Als die Mutter allein nach Essen zurückkehrte, erfuhr sie, dass der Aufruf zu Gerdas Deportation zwischenzeitlich tatsächlich eingetroffen war. Die Haushaltshilfe hatte das Schriftstück jedoch kurzerhand mit dem Vermerk „verreist” zurückgeschickt. Nach einigen Wochen kehrte auch Gerda zurück nach Essen. Der Arzt, der ihr die Flucht ermöglicht hatte, gab Entwarnung: Die Gestapo-Zentrale war bei einem Bombenangriff zerstört worden, alle Unterlagen vernichtet. Eine Deportation drohte nicht mehr.

Quelle: Die Texte wurden mit freundlicher Genehmigung der Inhaber*innen der Website “Jugend in Deutschland: 1918-1945” zur Verfügung gestellt: https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/zeitzeuge.aspx?root=1701&id=1701.

Ursula Brecht (geb. Lindemann)

1928 geboren, aus Köln, Deutschland 1

Köln, 1944

3. August
[...] Augenblicklich hab’ ich Ferien! Wir haben unsere großen Sommer- ferien, die jedes Jahr wieder herbeigesehnten acht Wochen Ferien! Aber dieses Jahr sind sie noch mehr überschattet als in den Jahren zuvor und sie sind nicht mehr unbeschwert und sorgenlos. Wir müssen diesmal in der meisten Zeit Einsatz machen. Viele kühmen und murren darüber, sie können deswegen nämlich nicht so lange an die See oder in die Berge verreisen, aber das ist wohl immer so, daß ein Teil sich gerne vor solchen Arbeiten drückt.

Wenn ich es mir so überlege, dann muß ich sagen, daß ich richtig froh bin über meinen diesjährigen Kriegseinsatz. Seit fast 4 Wochen bin ich Straßenbahnschaffnerin, ja, eine richtige Schaffnerin, allerdings eine sehr junge, 16 Jahre alt und mit langen Hängezöpfen. Aber das macht gar nichts. Niemals hätte ich gedacht, daß dieses ständige Hin- und Herfahren mir so viel Freude machen würde. Jeden morgen, früh um 5 Uhr 07 fahre ich mit der ersten Linie 11 los und kutschiere zwischen Dom und Südpark hin und her. Früh sind die Bahnen natürlich noch sehr leer. Nur ab und zu kommt ein besonders früh aufgestandener Arbeiter oder Zeitungsmann zu mir in den Wagen, der meist mit griesgrämiger Stimme ein verschlafenes: “N’morjen” brummelt. Aber schön ist’s, wenn ich morgens so früh durch die verschlafene Stadt klingle.

In Marienburg seh ich dann durch das helle Grün der Bäume die Sonne langsam und riesengroß so strahlend aufgehen, daß ich am liebsten singen möchte vor Freude. Die Vögel haben’s gut, sie können der Sonne unbeschwert ihre Lieder entgegen singen und jubeln. In der Stadt sehe ich dann die Sonne durch die Ruinen hindurch nicht mehr so strahlend froh am Himmel hochsteigen. Es macht mich immer ganz still, wenn ich die hellen Sonnenstrahlen über die vielen Trümmer hingleiten sehe. Besonders in der Severinstraße sieht es so erschütternd aus. - So gegen 7 bis 8 Uhr werden die Bahnen dann sehr voll und manchmal kann ich mich kaum durch mein Wägele quetschen, so verrammelt stehen all die vielen Menschen. Dann geht’s Necken los und manch einer zieht mich am Zopf, aber ich lasse mich nicht mich beirren und hamstere meine Fahrgelder ein und oft, ja zu oft auch Trinkgelder, was mich doch immer sehr verlegen macht. Ja, wirklich, meine Straßenbahn ist mir richtig lieb geworden.

Komisch, so oft fragen mich Bekannte, wenn sie hören, daß ich auf der Bahn sei, ob ich nicht viel Ärger und Belästigung mit den Fahrgästen oder Kollegen habe? Nicht die Spur, noch kein mal in diesen Wochen habe ich Ärger gehabt, im Gegenteil! Immer sind die Leute freundlich und lachen und spaßen mit mir und helfen mir sogar. Wenn der Wagen so voll ist, daß ich nicht mehr vor noch rückwärts kann, dann ruft sicher eine Stimme beruhigend zu: “Ruhig, Fräulleinche, ich schelle man schon ab”. - Oder es springt mal ein Kollege, der schon dienstfrei hat, auf den Wagen, schmunzelt zu mir in den Wagen und übernimmt die Schelle oder den Perron. Nein, die Menschen sind wirklich alle so hilfsbereit und nett, ich bin restlos zufrieden. Man erlebt manch nettes Anekdötchen in der Bahn, ich kann das gar nicht alles erzählen, da müßte ich ein Buch schreiben.

Aber es gibt auch oft Augenblicke, wo all das Schwere der augenblick- lichen Zeit auf einen einstürmt. Wenn ein Kriegsverletzter, ein Krüppel in die Bahn steigt und so müde und verzweifelt einen anschaut. Ja, wir haben noch beide Beine, beide Arme oder ein unzerstörtes frisches Gesicht. Man sieht sehr viel schreckliches Elend - aber auch dann darf man nicht traurig werden, oder die Traurigkeit zeigen, sondern man muß weiter munter sein und versuchen, diesen Menschen von der eigenen Fröhlichkeit etwas mitzugeben.

Und dann kommen die gefährlichen Stunden. Um 10 Uhr meist geht der Alarm los. Immer steht die Bahn woanders, wenn das unheimliche Geheule der Sirenen losgeht. Das sind dann sehr ungemütliche Augenblicke. Die Leute werden schrecklich nervös und aufgeregt, hasten aus der Bahn, und ich kann deutlich immer wieder erkennen, daß da keiner mehr an den anderen denkt, nein, jeder nur noch an sich und an die eigene Sicherheit. Man kann’s ihnen nicht verdenken. Wenn es dann anfängt zu schießen, beschleicht mich auch ein unheimliches Gefühl und ich säße lieber zu Hause in unserem winzigen Bunkerchen. Aber nun ist’s halt nicht so und ich versuche, nun auch hier meinen Mann zu stehen. Wir haben sehr viel Alarm und oft fallen dann auch Bomben, aber man hat sich an diesen Zustand in den letzten Jahren ja gewöhnt. Aber oft kommt gerade dann, wenn ich meine Ablösung erwarte und hundemüde bin, Alarm. Wie manches Mal bin ich schon 2, 3 oder 4 Stunden nach meinem Dienstschluß erst zum Abrechnen in den Straßenbahnhof gekommen. Oh, da hab’ ich immer gehörig geflucht und prompt mich immer bei der Abrechnung verrechnet.

So sieht also mein diesjähriger Kriegseinsatz aus, der mir ja so viel besser gefällt als voriges Jahr der Posteinsatz als Briefträgerin. Ich bin froh, daß ich so eine schöne Arbeit bekommen habe und in dieser Zeit auch etwas helfen kann. [...]

10. September
Früh um 7 Uhr kamen heute Arbeiter aus der Fabrik in Frechen zu uns und haben unten im Keller einen Schacht, in den wir unsere lebenswichtigsten Sachen gepackt haben, zugemauert. Ich habe meine Aktentasche mit meinen liebsten Büchern dazugetan. Eigentlich sind das Zustände wie zur Zeit des 30-jährigen Krieges. Es fehlte nur noch, daß wir im Garten unser Silber und Wertsachen vergraben würden. Und wirklich, vorhin machte Mutti diesen Vorschlag!

Allmählich ist es Dauerzustand, daß sich über uns feindliche Flieger tummeln, und ab und zu mit wahnsinnigem Schießen und Heulen aus ihrer Höhe herunterstürzen um auf die Zivilbevölkerung zu zielen. Wir haben den ganzen Tag über Alarm und sind andauernd in Bewegung, aber man gewöhnt sich daran und eilt nur noch in den Keller wenn es ganz nahe kommt und gefährlich wird.

Ab morgen bin ich Rüstungsarbeiterin! Freitag wurde ich vom Bann aus nach Ehrenfeld ans andere Ende von Köln zur Firma Paffrath geschickt, die einen Rüstungsbetrieb hat und Schülerinnen als Arbeiterinnen einstellt. In 3 Baracken, aus denen ein ohrenbetäubender Lärm klang, sind fürchterliche Ungetüme von Maschinen, auf die wir losgelassen werden. Mir sind diese Baracken nur noch als rauchgeschwärzte, nach Karbit stinkende Höhlen in Erinnerung geblieben. Daß darin Menschen arbeiten - ja atmen können, und daß ich ab morgen es auch können muß! Irgendwie werde ich zaghaft bei dem Gedanken, ach Unsinn, ich werde es schon schaffen!

Heute kam die Nachricht, daß beiderseits Lüttich [Anm: Stadt in Belgien] schwer gekämpft wird. Die Front kommt immer näher auf uns zu, wie soll das enden? Wir hören Kanonandonner. Ein eigenartiges Gefühl kommt über einen, wenn man abends im Dunklen auf das eintönige auf und ab schwellende Grollen im Westen hört. Nein, nicht nachdenken, man darf es nicht, nicht an all die Jungens, an die Brüder denken, die vielleicht da draußen gerade schreckliches durchstehen. Gut, daß es so viel Arbeit gibt. [...]

24. September
Wieder ist eine Woche herum. Im Radio höre ich gerade das schöne Klavierkonzert von Schumann. Wie gut tut diese Musik! Ach ja, dieses Konzert möchte ich, wenn wir wieder Frieden haben, einmal spielen, es ist so schön und stimmt mich ganz weich. - Ich schaue auf meine Hände und muß lachen. Mit diesen Händen will ich Schumann spielen?! Sie sind so häßlich, so verbrannt und zerschunden und dabei so steif, daß ich kaum den Füller halten kann. Ich liege heute im Bett, weil ich gestern ziemlich abgekämpft nach Hause kam, morgen kann ich aber wieder arbeiten. Meine Arbeit an den 2 Maschinen ist einfach toll, ich bin in einer ständigen Hetzjagd um die Arbeit zu schaffen, denn wir arbeiten alle so Hand in Hand, daß wenn ich etwas zögere andere nicht weiterkommen.

Freitag hab ich das erste Mal meine Lohntüte bekommen. 0,37 Pfennig pro Stunde. Eigentlich viel bescheidener als mein enormes Einkommen bei der Straßenbahn. Und gestern haben wir alle Schwer- und Langar- beiter Lebensmittel-Zulagekarten bekommem. Darauf bin ich richtig stolz! Wir haben von Klaus endlich Nachricht vom 17.8. aus St.Lo - zu der Zeit ging es ihm noch gut. Von Hansel haben wir länger keine Post mehr. [...]

1 Hier handelt es sich um Ausschnitte aus dem Tagebuch von Ursula Brecht. Die ursprüngliche Wortwahl und Schreibweise wurde beibehalten.

Quelle: Die Texte wurden mit freundlicher Genehmigung der Inhaber*innen der Website “Jugend in Deutschland: 1918- 1945” zur Verfügung gestellt: https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/zeitzeuge.aspx?root=27120&id=27120.

Gertrud Zillikens (geb. Riediger)

Am 19. Mai 1933 geboren in Braunsberg (heute: Braniewo) in Ostpreußen, Germany.

„Mein Vater war im Krieg. Er war sehr selten zuhause. Er hat für mich alles bedeutet.“

Ihr Vater starb mit 39 Jahren im Krieg.

Während des Krieges lebte Gertrud mit ihren beiden Schwestern - Hedwig (geb. 1930) und Angelika (geb. 1935) - und mit ihrer Mutter Katharina (1910) in Braunsberg. Vom Krieg waren sie lange Zeit nicht betroffen. In der ersten Zeit des Krieges fehlte ihnen nichts. Die Situation änderte sich, als sie ihren Vater Otto in seiner Soldatenkaserne in Königsberg besuchten und dann direkte Augenzeugen einer Bombenexplosion wurden. Gertrud war schockiert und konnte das Grauen um sie herum nicht begreifen: „Es war wirklich erschreckend. Da waren Leute, die Phosphor an den Kleidern hatten, sie sprangen in die Pregel. Als sie aus dem Fluss kamen, brannten sie immer noch. Brennende Menschen liefen durch die Stadt. Es war furchtbar, wirklich erschreckend. Ich konnte nicht verstehen, dass so etwas passieren konnte.“

Am nächsten Tag, nach den schrecklichen Vorfällen in Königsberg, erfolgte der erste Luftangriff auf Braunsberg: Ein weiteres entscheidendes Ereignis: In Braunsberg heulten die Sirenen, doch zum Glück blieb die Gegend, in der die Familie Riediger wohnte, unberührt. Das Haus in der Bahnhofstraße, in der die Tante mit ihrem Sohn wohnte, wurde völlig zerstört, sodass die beiden zur Familie Riediger zogen.

Ihre Mutter, die psychische und physische Probleme hatte, verlor langsam die Kontrolle. Im Frühjahr 1945 begann eine Zeit, in der Gertrud, die noch keine zwölf Jahre alt war, mehr Verantwortung für ihre Mutter und Schwestern übernehmen musste. Die Front rückte schnell näher. Gauleiter Koch verhängte ein striktes Verbot zur Flucht nach Ostpreußen, das auch in Braunsberg durchgesetzt wurde: “Wir durften nicht fliehen, wir durften nicht weg.” Dieses Verbot blieb auch nach dem Angriff auf das Dorf selbst bestehen.

Katharina Riediger schien nicht mehr in der Lage, notwendige Entscheidungen zu treffen. So weigerte sie sich, die Wohnung und auch Braunsberg und Ostpreußen zu verlassen. Die kleine Gertrud versuchte gegenzusteuern: „Ich habe gesagt: ‘Mama, alle Leute hier sind schon weg. Mama, wir müssen gehen!’“ Gleichzeitig erhielt Gertrud im wahrsten Sinne des Wortes Informationen über das, was in nächster Zeit zu erwarten war: Sie schaute aus dem Fenster und sah durch ein Fernglas russische Panzer: „Wir sahen russische Panzer, die von Frauenburg herunterkamen.“

Braunsberg war durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss bereits weitgehend zerstört - als die Rote Armee am 20. März 1945 in die Stadt einmarschierte, lag die Kleinstadt zu etwa 80 Prozent in Trümmern. “Sie kamen zu meiner Mutter und sagten: ‘Sie müssen sofort weg. Kein Gepäck, kein garnichts! Geht mit dem, was ihr in euren Händen habt. Wir hatten nicht einmal etwas zum Wechseln”, schildert Gertrud Zillikens weiter die Dramatik dieser schrecklichen Situation.

Die Mutter weigerte sich weiterhin zu gehen und nannte die schwere Krankheit ihrer ältesten Tochter Hedwig als Ursache. Sie erklärte dem Soldaten, dass ihre Tochter sterben wird, wenn sie wegläuft. Doch der Soldat blieb unnachgiebig: „Sie müssen aber!“, erklärte er kurz und knapp. „Wenn Sie nicht gehen, halte ich Ihnen die Pistole auf die Brust! Sie müssen! Sie haben doch Kinder! Sie müssen gehen!“. In diesem Moment gingen sie. Bei winterlichen Temperaturen trugen sie so viele Kleidungsschichten wie möglich, denn sie konnten nur etwas Handgepäck mit ein paar Kleinigkeiten mitnehmen.

Sie fuhren von Braunsberg nach Pillau, dann ging es mit dem Boot in ein Flüchtlingslager nach Dänemark. Ende 1947 wurde bekannt gegeben, dass alle Personen mit Verwandten in Deutschland nach Deutschland reisen konnten, um bei ihren Verwandten zu leben. Katharina Riediger behauptete, einen Verwandten in Deutschland zu haben, den es eigentlich nicht gab. Und damit durfte die Familie ausreisen. Zuerst kamen sie in Niederbreisig am Rhein an, dann nach Hochneukirchen. Dort konnten Gertrud und ihre Familie endlich ein neues Leben beginnen.

Quelle: https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/zeitzeuge.aspx?bereich=projekt&root=29833&id=29833&redir=

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