Tagebücher / Memoiren

Anna K. , Russland

16-19 Jahre

90 minuten

Anatoli Listopadow

1929 geboren, lebte in Bachmatsch, Region Tschernihiw, Ukraine.

Anatoli führte ein Tagebuch, als er in der von deutschen Truppen besetzten Region lebte.

1941

22. Juni.
KRIEG. Molotow spricht um 12 Uhr. Der Alarm schrillte mitten in der Rede. Die Miliz beendete den Markt. Ich lief mit den Jungs wie wild herum. Am Abend begannen wir, Schützengräben auszuheben. Die Verantwortlichen machen die Runde, damit jeder mitgräbt. Die Frauen sind verärgert und sagen: „Wir graben hier unsere eigenen Gräber. Wir sitzen lieber drinnen, wenn die Bomben fallen.“ Anna Konstantinowna weinte. In der Nacht gab es zwei Alarme. Petro Samostijanowitsch sagte, dass in diesem Krieg viele Menschen sterben werden. Ich glaube das nicht.

23. Juni.
Die Kavallerie aus dem Rekrutierungsbüro hat die ganze Nacht damit verbracht, Einberufungsbefehle an die Rote Armee zu überstellen. Der Alarm schrillte des Nachts. Im Radio sagte man: „Bürgerinnen und Bürger, deutsche Bomber sind auf dem Weg nach Bachmatsch.“ Sie sagten es dreimal. Das verängstigte uns. Es gab während des Tages mehrere Alarme. Und jedes Mal rennen die Krankenschwestern pfeilschnell zu ihren Sammelpunkten.
Wunderbar! Petro Samostijanowitsch sagt: „Warum rennt ihr wie wilde Hühner herum? Sie müssen nur eine Bombe werfen, und ihr seid erledigt.“ Die Frauen werden wütend und sagen etwas zu ihm. Es gibt in diesem Jahr viele Äpfel. Wir schwimmen, liegen in der Sonne und genießen im Großen und Ganzen unsere Ferien in vollen Zügen. Viele Flugzeuge starten momentan. Unser Team arbeitet auf Hochtouren.

3. Juli.
Heute haben wir Stalins Rede gehört. Die Angestellten im Kindergarten haben geweint. Viele Flüchtige kommen bei uns an. Die Sirene für Luftangriffe schrillt. Wir müssen lachen, wenn die Flüchtigen bei den Alarmen wie wild herumrennen. Wir lachen, und sie sagen, dass wir noch nicht zerbombt wurden, deshalb lachen wir.

14. Juli.
An den heutigen Tag werde ich mich noch lange erinnern. Um 16 Uhr gab es einen Luftangriff auf Bachmatsch. Er dauerte zwei Stunden und 40 Minuten. Das war wirklich beängstigend! Ich kam gerade von der Bibliothek. Die Flugzeuge tauchten über der Stadt auf, als ich auf halbem Weg nach Hause war. Dann begann der Lärm! Ich wurde durch die Luft gegen den Zaun geschleudert, mitten in den Schlamm. In den letzten Tagen regnete es etwas. Ich lag einfach da, mein Herz wollte vor Angst aus der Brust springen. Über den Köpfen flogen sie umher, man hörte Maschinengewehre donnern, die Kugeln pfiffen durch die Luft. Sie flogen über die Stadt, kehrten um und kamen wieder. Ich stand auf, hoffte, dass meine Beine noch da waren. Ich flog in den Kindergarten. Sie hatten Essen für die Kinder gekocht. Die Teller waren auf den Tischen unter den Apfelbäumen. Plötzlich wieder dieses Donnergrollen! Teller wurden von den Tischen gefegt. Mindestens ein Flugzeug sank nieder und zerschellte. Ich sprang in einen halbfertigen Schützengraben und legte mich auf den Boden. Ich schaute mich um: Viele Krankenschwestern und diese medizinischen Gehilfinnen lagen bereits hier. Petro Samostijanowitsch hatte recht: Sie hatten offenbar ihre Uniformen vergessen. Eine lag da, ihre Finger waren in ihren Ohren, der Mund war bis zu den Ohren geöffnet. Sie wollte nicht taub werden. Ihre Augen waren die eine Schafes, das ausgepeitscht wurde. Wenn es nicht so furchtbar gewesen wäre, hätte ich sofort losgelacht. Dann explodierten die Bomben in direkter Nähe. Die Luft war höllisch heiß. Ich kroch durch die Kartoffeln zu einem überdachten Schutz und hielt dort bis zum Ende des Bombardements aus. Die Wände bebten. Sand rieselte durch die Decke. Der Druck in der Luft schnürte uns die Luft ab. Als wir herauskamen, war es so dunkel als wäre es bereits Abend. Rauch bedeckte die Sonne. Senopunct brannte. Am Bahnhof Kiewski schossen Granaten, Bomben und Kugeln durch die Luft. Feuersäulen bauten sich aus den Benzintanks in den Himmel auf. Leichen wurden in den Garten der Chirurgie transportiert. Ein Auto fuhr heran, eine Leiche wurde abgeladen, mit Stroh bedeckt, und die nächsten wurden geholt. Die Verwundeten wurden ebenfalls eingesammelt. Viele wurden schwer verletzt. Niemand wusste, wie man sich versteckte. Sie rannten alle von der Arbeit weg und nach Hause zu ihren Kindern. Und die Faschisten, die Ungeheuer, waren im Sinkflug und schossen völlig wahllos mit Maschinengewehren in die Menge. Die Gräben war komplett überfüllt, und ich saß bogenartig mit dem Rücken zu einer Wand, mit den Beinen zu einer anderen. Gestern wurde unser Team wieder zusammengerufen und ein Plan geschmiedet, aber der zerstörerische Bombenangriff hat uns in alle vier Himmelsrichtungen verteilt.

29. Juli.
Ich war in der Stadt. Wir saßen zu dritt in den Kirschbäumen, als die Bomben heranpfiffen. Die Deutschen flogen geräuschlos heran. Wir fielen aus den Bäumen und lagen still da. Was für ein Lärm im Hof! Die Besitzerin kam aus dem Haus, sah uns und jagte uns davon. Shenja und ich sprangen über den Zaun, aber Taras‘ Hosenbein blieb hängen. Sie erwischt ihn natürlich, prügelte mit einem Stock auf seinen Rücken. Er kam frei und riss sein Hosenbein bis zur Hüfte auf. Wir rannten zum Moor, und endlich konnten wir laut loslachen. Die Deutschen warfen vier Bomben ab. Zwei explodierten, zwei waren Blindgänger. Die einzigen Opfer waren zwei Wildschweine.

Die Menschen kehren langsam in die Stadt zurück. Unser Team löst sich langsam auf, die Menschen gehen. Wir sind noch 19 Leute, und wir arbeiten wie Tiere. Es ist unheimlich in der Stadt, aber auch lustig. Ich schlafe in der Stadt, im Kindergarten, mit Petro Samostijanowitsch. Und manchmal kommen die Jungs dazu. Es gibt viele Äpfel, aber es gibt nicht genügend Abnehmer.

10. August.
Es ist still in der Stadt. Ich war schon einige Tage nicht mehr in der Stadt. Wir haben Heu gemacht. Auf dem Feld ist es ganz gut! Wir haben Pilze im Wald gesammelt. Es gibt ein Bataillon im Dorf. Wir sind oft da. Es ist lustig bei der Roten Armee!

4. September.
Viele Soldaten der Roten Armee sind im Dorf. Der Ertrag des gemeinschaftlichen Landwirtschaftsbetriebs wird auf die Bauern aufgeteilt. Die Eigentümerin brachte Hühner, Honig und Äpfel nach Hause, dazu noch ein kräftiges Schwein. Ich lebe jetzt fast immer mit den Kämpfern zusammen. Und ich esse dort.

7. September.
Ich nahm die Kuh der Eigentümerin mit auf die Weide. Dazu nahm ich noch einen Hut voller Pflaumen mit. Die Truppen bewegen sich entlang der Straße aus Baturyn. Und sie haben Panzer und Kanonen dabei. Über Baturyn sieht man Rauch, und man hört Explosionen. Sie bringen ihre Kanonen am Dorfrand in Stellung. Wir gingen zu ihnen. Sie gaben uns Buchweizen, und wir gaben ihnen Pflaumen, Äpfel und Birnen. Tolle Typen! Im Dorf sind sehr viele Truppen. Sie haben die Gärten mit Maschinenausrüstung vollgestellt. Gegen Abend flogen zwei Heinkel vorbei. Sie flogen über das Dorf, durchlöcherten das ganze Dorf mit ihren Schüssen und flogen davon. Wir saßen in einem Graben.

10. September.
Die Deutschen verminen die Straßen. Sie sammeln Pflüge, Eggen und Karren, um Barrikaden aufzubauen. Um zehn Uhr feuern sie auf die Stadt. Wir gingen zu der alten Wohnung und dann konnten wir nicht mehr zurück. Die Deutschen hatten die Straßen vermint. Vier Autos kamen bei der Eigentümerin im Hof an. Die Deutschen wollten die Hühner einfangen. Sie nahmen die Milch weg. Ein Kranz aus Knoblauch hing dort, und sie schälten alles für den Topf. Sie schüttelten alle Birnen vom Baum. Sie trieben sich wie Wölfe herum. Die Eigentümerin wurde fast getötet, weil sie sie daran hindern wollte, die Obstbäume zu beschädigen.

26. Oktober.
Heute haben uns die Deutschen eine Pfanne geklaut. Die Eisenbahn fährt nicht mehr. Manche wurden dazu gezwungen, die Brücke zu reparieren. Ein Arbeitsregister wurde erstellt. Alle zwischen 14 und 60 müssen sich registrieren, sonst werden sie erschossen. Ich werde mich nicht registrieren lassen, auch wenn ich 14 Jahre alt werde. Alle Registrierten müssen für die Deutschen einen halben Monat arbeiten, und in der anderen Monatshälfte haben sie frei. Sie kriegen dafür 3 Kilogramm Gerste pro Monat. Waleri Kiritschenkos Vater leitet das Register. Wir hatten Streit mit Waleri. Er nennt uns Partisanen, und wir nennen ihn einen deutschen Lakaien. Er sagt: „Das sage ich Papa.“ Und wir hauen ihm dafür eine rein. Sein Vater hat sich bei Anna Konstantinowna beschwert, und sie gab mir eine Standpauke. Das geht in Ordnung. Die Deutschen haben alle aus den Regierungsgebäuden geworfen, und jetzt leben sie selbst in ihnen.

26. November.
Unsere Versorgung mit Lebensmitteln ist schlecht. Es gibt nichts zu essen. Anna Konstantinowna tauscht Kleidung gegen Essen. Es gibt auch kaum Benzin, aber ich habe eine Brechstange gegen etwas eingetauscht. Die Deutschen sagen, dass sie bereits in Moskau kämpfen. Sie lügen, die Hunde! Die Märkte sind alle zu. In der Nacht hat jemand dreimal auf den ungarischen Beamten und zwei Soldaten geschossen. Schade, dass sie die Hunde nicht erwischt haben. Als Vergeltung haben sie 50 Bewohner von uns erschossen.

1942

13. Januar.
Heute habe ich Kohle besorgt, und ich wurde von einem „verrückten“ Polizisten erwischt. Er hat mich zur Gendarmerie gebracht, wo ich verprügelt wurde. Ich kam gerade noch mit dem Leben davon. Wir haben begonnen, Kohle aus den Zügen zu klauen und sie zu verkaufen: 100 Rubel für ein paar Kilogramm. Ich habe ein paar Groschen, und damit können wir gerade so den Hunger besiegen. Wenn wir erwischt werden, werden wir erschossen. Gut. Iwan Matwejewitsch wurde zum Bahnhof zum Arbeiten gerufen. Er hatte eben erst eine Pause. Er täuschte eine Krankheit vor. Er stellt zu Hause Reiben her, und ich verkaufe sie. Er stellt sie aus Dosen her. Es gibt viele Dosen am Bahnhof.

18. Januar.
Heute bin ich 14 geworden. Ich sollte mich eigentlich beim Arbeitsregister anmelden, aber das werde ich nicht tun. Es kommt, was kommt. Ich habe absolut kein Interesse, für sie zu arbeiten.

2. April.
Wir setzen bald wieder Kartoffeln. Die Deutschen haben gesagt, dass jede Kuh 800 Liter Milch pro Jahr erzeugen muss. Sie überfallen oft die Märkte. Sie tun so, als würden sie einen Dieb stellen, aber eigentlich klauen sie vom Markt. Sie nehmen Milch, Butter, Schinken, Eier usw. Heute hat mich ein Deutscher dazu gezwungen, sein Zeug vom Zentrum nach Gomel zu tragen. Ich habe es erst abgelehnt, aber dann schlug er mich, also musste ich.

10. Oktober.
Ich musste mit der Arbeit anfangen. Ich arbeite als Bote im Gesundheitszentrum der Region. Nicht für die Deutschen, also das ist jedenfalls etwas Gutes. Da draußen ist es nur noch ein deutsches Gefängnis. Die Gestapo ist im Garten. Unsere Gräben zum Verstecken vor den Bomben sind mit den Leuten gefüllt, die sie erschossen haben. Am frühen Morgen des 2. hat der Deutsche einige Partisanen in Unterwäsche in den letzten Graben gepfercht und eine Bombe reingeworfen. Nicht alle wurden dabei getötet: Die Überlebenden rannten in alle Richtungen und verteilten sich in der Stadt. Sie versteckten sich in Ställen, Kellern und wo sie nur konnten. Die Deutschen durchstreiften zwei Stunden die Stadt und töteten jeden sofort am Fundort. In der ganzen Stadt wurde geschrien und geschossen. Wir konnten es sogar von unserer Stellung aus hören. Natürlich wurden nicht alle getötet, und offensichtlich wurden auch viele gerettet.

1944

7. Januar.
Meine Mutter hat mich gerufen, aber sie ließen mich nicht weg. Wir haben einen gemeinsamen Laden aufgemacht. Er hat alles. Kleine Sachen: Stifte, Füller, Nadeln usw. Das Militär bekommt Sachen, ohne groß zu investieren. Ich trage also Militäruniform, und sie geben mir Sachen, als wäre ich ein Mann vom Militär. Status zahlt sich aus.

24. Februar.
Ich wohne schon seit neun Tagen mit meiner Mutter in Arsamas. Wir leben in der Wolodarski-Straße, aber wir wollen umziehen. In dieser Wohnung ist es überfüllt. Ich kenne hier niemanden, und ich habe noch keine Arbeit. Ich gehe allein durch den Ort und schaue mir alles an. Die Stadt ist alt, und früher gab es hier viele Kirchen. Mama sagt, es waren 36. Die Stadt ist langweilig, und ich mag sie nicht sonderlich. Ich weiß nicht, was als Nächstes passiert. Ich ging ins Kino. Hier gefriert es noch immer. Die Vermieterin versteht mich nicht so gut, und ich verstehe sie nicht. Die Ergebnisse sind wunderbar.

24. März.
Ich bin der Eisenbahngesellschaft Nr. 5 beigetreten. Ich wurde angenommen. Ich beginne am 1. April. Der Schnee schmilzt langsam. Abends war ich mit Shenja im Kino.

Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass hier Frieden herrscht. Ja, es gibt noch viele Flugzeuge im Himmel, und aus Gewohnheit schaue ich noch immer, wem sie gehören.

1945

9. Mai.
Ein bemerkenswerter Tag. Heute wurde um 4 Uhr im Radio erklärt, dass die Deutschen ihre Kapitulationsurkunde unterschrieben haben. DER KRIEG IST VORBEI.

Quelle: Prozhito. https://prozhito.org/person/1766

Ljudmila Leblan

Am 4. Mai 1926 geboren, lebte in Beshiza, Region Brjansk, Sowjet-Russland.

Ljudmila wurde am 4. Mai 1926 in Beshiza in die Familie von Wiktor Aleksejewitsch and Maria Petrowna Leblan geboren. Ihr Vater war Bauarbeiter und ihre Mutter Lehrerin. Sie lebten sehr bescheiden mit ihrer Oma in einem alten Holzhaus am Ende der Saratow-Straße. Ljudmila war gut in der Schule. Nach dem Krieg schloss sie mit Auszeichnung das Institut ab. Sie arbeitete sehr lange in der Automanufaktur von Brjansk, wo sie im Labor tätig war.

Sie begann ihr Kriegstagebuch am 22. Juni 1941, und ihr letzter Eintrag stammt vom 4. Januar 1949.

Beim Kriegsausbruch war Ljudmila Leblan 15 Jahre alt. Beshiza wurde am 17. September 1943 befreit.

1941

22. Juni. (4 Uhr).
Der Kriegszustand wurde ausgerufen.

Ziemlich unerwartet, kehrte heute, also eben in der Nacht, Papa aus Litauen zurück. Ich schäumte über vor Freude. Seine Ankunft war eine Befreiung, weil meine Tränen in dem Moment getrocknet wurden. Davor waren Tränen meine alltäglichen Begleiter.

Ich hatte immer schlechte Laune. Es wurde noch schlimmer, da alle depressiv waren. Und wo man auch hinschaut, haben alle Tränen in den Augen.

Ich bin sehr sauer, dass niemand in meiner Familie versteht, wie die Dinge wirklich sind. Sie sehen die Dinge total falsch. Entweder sehe ich einfach den kompletten Kriegshorror nicht, oder die Nerven meiner Mutter sind einfach in miserablem Zustand. Mir fällt es sehr schwer, sie bei den kleinsten Sachen weinen zu sehen, ob gut oder schlecht.

12. November. (11 Uhr).
Ich habe eine furchtbare Straftat begangen: Ich habe die Krone meiner Armbanduhr kaputtgemacht. Im Frieden wäre es nicht so schlimm gewesen, aber jetzt ... Wo finde ich denn jetzt einen Uhrmacher? Und die Uhr wäre jetzt sehr praktisch gewesen. Ich hätte sie vielleicht in Brot umtauschen können.

1942

26. Januar.
… Die Menschen in der Stadt leiden jetzt extremen Hunger. Sie suchen die Dörfer nach essbaren Sachen ab.

19. April.
Der Frühling ist endlich angekommen. Wir dachten, dass es in diesem Jahr keine Flutungen geben würde, oder sie könnten vielleicht kleiner ausfallen. Aber das Wasser war genauso stark wie immer. Ihm war der Krieg egal. Die Sonne scheint wirklich unerbittlich, die Vögel singen und das Wasser ist wie ein Spiegel. Es ist so schön, in der Sonne zu sitzen, die grauenhaften Gedanken an den Krieg kurz beiseite zu schieben und sich selbst in der Natur zu verlieren!

15. Juni.
Seit dem Fünften arbeite ich im Waageamt. Es ist etwas lustiger auf Arbeit. Es gibt momentan wenig zu tun. Wir hatten die ganze Zeit hier keine Deutschen, aber heute wurde eine Kantine aufgebaut. Soldaten wurden in leeren Häusern untergebracht. Bisher wurde noch niemand bei uns einquartiert.

1943

28. April.
Heute ist mein letzter Arbeitstag auf dem Markt mit meinen tollen Kollegen. Ab morgen ziehe ich in die Abteilung für Reisedokumente um. Ich werde wohl als Sekretärin arbeiten. Endlich bekomme ich eine Art Bürostelle. Hatte ich Glück? Ich weiß es noch nicht.

5. Mai.
Gestern bin ich 17 geworden. Wenn ich lese, was ich so geschrieben habe, denke ich: Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem letzten und diesem Jahr. Im letzten Jahr hatte ich so viel Freizeit, dass ich nicht wusste, wohin damit. Und das war eigentlich echt schwierig. In diesem Jahr merke ich gar nicht, wie schnell die Zeit rast. Es stimmt, S. hilft mir dabei. Ich bin manchmal auch sauer auf ihn. Aber mein Ärger verfliegt wieder so schnell wie er kam. Es ist eigentlich unmöglich, wirklich sauer auf ihn zu sein. Er ist ein einfacher, süßer Junge. Ich weiß nicht, was passieren wird, bisher nichts. Heute hatten wir ein wichtiges Gespräch, und wir haben das komplette Gegenteil von einander gedacht. Vielleicht überdenkt er noch mal seine Meinung und übernimmt meine?

27. Juli.
Ich kann das Kanonendonnern hören. Die Menschen wurden aus Orjol evakuiert und kommen hier an.

[Alle] scheinen sich etwas zu vergessen, als sich die Front von uns wegbewegte. Wir hatten noch immer gelegentliche Bombenangriffe. Einmal waren sie sogar sehr regelmäßig. Aber ganz egal, wie schlimm die Bombenangriffe sind, wenn man an die Front denkt, war es damals viel schlimmer. Gut, wir sahen im Jahr 1941 viele Emotionen, vielleicht wird es – Gott bewahre! – diese in diesem Jahr nicht mehr geben.

6. August.
Die dritte Bombennacht in Folge. Wo ist Vater jetzt? Wir wissen gar nichts, auch nicht, ob er noch lebt. Oder wie bald der Krieg enden wird. Wir haben uns entsetzlicherweise daran gewöhnt: Das Leben ist gar nicht mehr interessant. Es existiert nur noch. Und es macht keinen Unterschied, ob man jetzt stirbt oder erst später. Es ist nur schade, dass ich so die goldenen Jahre meiner Jugend verbringe. Es gibt immer noch Leute, die unbeschwert leben können, aber wie kann man Spaß haben, wenn momentan so viel Blut fließt? Ich finde, dass dies im Moment wirklich eine Straftat ist. Wie abgehärtet und herzlos muss man sein, dass man das anders sieht und nur sagt: „Krieg? Wen interessiert das!”

18. August.
Unsere Männer sind außerhalb von Brjansk arbeiten. Deutsche wurden gestern bei uns in Stellung gebracht. Wir haben einen Hauptmann mit Putzer und Chauffeur.

31. August.
Ich war am letzten Sonntag im Park. Ich wäre eigentlich ins Kino gegangen, aber die Ausrüstung wurde bereits entfernt, also verbrachten wir den Abend im Park. Dort gab es ein Konzert, aber keiner hörte einer einzigen Note zu. Wir quatschten die ganze Zeit. Die seltsamsten Besucher waren die Soldaten. Im Park war niemand vom Bildungsbürgertum, nur Menschen aus den Vororten. Kein Mädchen hatte eine gewöhnliche Frisur, sie hatten alle Locken, Lippenstift und Make-up.

Heute Morgen kamen die Deutschen mit den Evakuierten. Sie heben Graben im ganzen Garten aus. Alle Zäune in unserer Gemeinde wurden entfernt. Sie bauen gerade unseren Zaun ab und reißen die Himbeeren heraus.

In der Stadt machen einige Gerüchte die Runde, jedes ist anders. Was die Leute sagen und tun, macht nichts wirklich klarer.

11. September.
Unsere größte Angst ist wahr geworden. Es war noch nicht 6 Uhr, als die Gendarmerie kam und uns dazu zwang, in fünf Minuten bereit zu sein. Sie trieben alle auf die Straße, auch die Kranken. Sie zwangen uns, nach Desna zu gehen.

Das ist eine echt große Abwanderung. Die Menschen laufen, fahren in Schubkarren, Kinderwagen und Rollwagen. Ziegen, Kälber und Fohlen werden an dürftige Karren gespannt. Manche reiten auf Kühen, nur wenige auf Pferden. Die Deutschen jagen uns die ganze Zeit, setzen die beengten Nachbarschaften in Brand, damit die Leute nicht hierbleiben.

Unsere Reise wurde zum ersten Mal in der Krachtowskaja-Straße unterbrochen, als ein Griff an unserem Wagen abbrach. Wir reparierten ihn und liefen weiter. Danach mussten wir den Wagen noch ein paar Male reparieren. Erst fuhren wir mit unseren Nachbarn und Mietern, und dann wurden sie mit ihren ganzen Sachen zurückgeworfen. Am Ende verloren wir unsere Reisebegleiter vollends.

Als wir die Kreuzungen in der Stadt hinter uns gebracht hatten, wollten wir für die Nacht anhalten. Wir blieben zwei Stunden, und dann trieben [uns] [die Deutschen] weiter, obwohl es Nacht war. Wir gingen etwas weiter, und dann verließen wir und zwei andere Familien die Straße kurz und hielten für die Nacht an. Wir kochten Kartoffeln, holten uns Stroh und schliefen erstmals auf unserer Reise unter freiem Himmel. Das Wetter ist noch trocken, der Mond scheint und die Kanonen erschüttern den Boden. Während der gesamten Nacht gab es Auseinandersetzungen bei Brjansk und Tschaikowitsch. Gegen Morgen senkte sich das Glühen am Himmel etwas, Richtung Horizont, und die Kanonen verstummten. Es gab einen harten Frost, und es war sehr kalt am Morgen. So verbrachten wir die erste Nacht unserer Reise.

17. September.
Es ist Nachmittag. Unsere Reise ist vorbei …

Quelle: L. V. Leblan, Kriegstagebuch // Erinnerungen an den Krieg in Beshiza: Zusammengestellt von T.M. Maidanowa, bearbeitet und mit Vorwort von A.M. Dubrowski, Brjansk, 2016, S. 202-208. https://prozhito.org/person/3912

Wiktor Tscherni

1928 geboren, lebte im Dorf Mogilnoje, Gemeinde Borisowski, Region Minsk, belarusische SSR.

Vor dem Krieg

Das Leben war hart. Wir hatten keine Eltern. 1941 erschossen die Deutschen meinen Vater. Wir hatten keine Mutter. Wir lebten zu dritt zusammen. Ich war nur vier Jahre in der Schule. Ich war 12 Jahre alt.

Krieg

Wir waren auf uns allein gestellt. Wir waren Kinder. Nur Kinder. Ich war an diesem Tag nicht zu Hause. Die Deutschen verfolgten die Juden zu dieser Zeit schon lange. Maria kam im Herbst 1941 mit ihrem kleinen Mädchen zu uns nach Hause. Ihre beiden Jungen waren in Borisow erschossen worden. Na ja. Maria versteckte sich im Wald. Sie erzählte uns: „Wir sind Flüchtlinge aus Smolensk und man hat uns alles genommen.“ Alles, was sie hatten, war das, was sie anhatten, sonst nichts. Sie hatten nichts anderes. Sie kamen und sagten: „Wir wollen bei euch wohnen.“ Meine Schwester sagte: “OK.“ Also kam ich nach Hause - ich war bei der Arbeit gewesen. (Ich pflügte unser Land - die Deutschen hatten uns während des Krieges sechs Hektar Land gegeben, weil wir Waisen waren. Manche Leute nahmen zehn, andere acht. Wir brauchten nicht so viel. Sechs war viel für uns.) Nun. Ich kam nach Hause, und meine Schwester sagte: „Wir haben einen Gast.“ Also, ich dachte, wir werden es überstehen. Es ist, wie es ist. Wir waren Waisenkinder, Maria war schon erwachsen, sie war 1909 geboren, sie war schon eine alte Frau. Das Mädchen war klein und kannte unsere Sprache nicht. Sie war vielleicht vier, vielleicht auch älter. Sie konnte laufen, zwar so wie alle kleinen Kinder laufen. Meine Schwester war vor dem Krieg zwei Jahre in der Schule. Sie waren klein, nun ja, sie konnten sofort laufen.

Während des Krieges habe ich nicht im Haus geschlafen. Ich war oben auf dem Heuboden. Ich habe mir dort eine Art Nest gebaut. Na ja. Ich schlief dort, und die alte Frau tat so, als wäre sie taub. Die Leute fingen an, ihr Sachen zu bringen, damit sie ihnen Pullover, Socken, Handschuhe strickt. Nun, sie sagten, ein Flüchtling, ein Flüchtling aus Smolensk. Wir hielten sie alle für einen Flüchtling aus Smolensk.

Nach dem Krieg

Wir erlebten den großen Sieg. Nachdem das kleine Mädchen geheiratet hatte, gingen sie nach Israel. Sie gingen weg und wurden dort willkommen geheißen. Die alte Frau Maria wollte nicht gehen, aber die Kinder sagten ihr: „Wir brauchen dich.“ Denn sie hatten schon eigene Kinder bekommen. Also brauchten sie ein Kindermädchen. Also ging Maria nach Israel. Sie erzählte ihnen, dass sie aus Belarus kam und dass Belarus während des Krieges besetzt worden war, und sie begannen, über meine Schwestern und mich zu sprechen. Meine Schwester sagte dann zu mir: „Witja, komm mit ins Museum, wir bekommen eine Auszeichnung.“ Ich verstand nicht, ich sagte: „Wer? Und was?“ Sie sagte: „Wir haben Juden gerettet, sie werden uns eine Auszeichnung geben.“ (1997 wurde Wiktor Tscherni der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen.)

Quelle: The Leonid Levin Minsk Historical Workshop electronic witness archive, Minsk, Belarus http://zeitzeugenarchiv.gwminsk.com/ru/archiv/gerechte/chyornyy-viktor

Nikolai Borowski

1927 in der Stadt Ostroschitski Gorodok geboren, Region Minsk, belarusische SSR.

Das Leben vor dem Krieg

Nikolais Vater starb als Nikolai noch sehr jung war, und der Junge wuchs selbständig und mit Arbeit auf. Seine Mutter tat ihm leid, und er half ihr, wo immer er konnte. Vor dem Krieg beendete Nikolai sechs Jahre an der Oberschule in Ostroschitski Gorodok.

Krieg

Der Krieg begann. Am Tag vor der Ankunft der Deutschen teilte der Stellvertreter Kirill Iwanowitsch Schestakow der Lehrerschaft, den Komsomol-Mitgliedern und Schulpionieren mit, in dieser Nacht alles Wertvolle in der Schule im Garten zu vergraben: Ausrüstung, Handbücher, Schulbücher. Am nächsten Morgen besetzten die Deutschen die Schule und nahmen die restlichen Schulbücher, Karten, Bücher und Dokumente, warfen sie auf die Blumenbeete und verbrannten alles. Das schreckliche Feuer entfachte sehr viel Ärger. Die Schule wurde geschlossen, und die Kommandantur wurde darin eingerichtet.

Eine Schule wurde im Untergrund schnell organisiert und sofort in Betrieb genommen. Alle Mitglieder der Literatur- und Theaterzirkel traten dem Untergrund bei, darunter auch Kolja Borowski. Obwohl der Jugendliche der Jüngste unter allen war, hatte er Talent und Mut, und er führte jede Aufgabe sehr gut und verantwortungsvoll durch. Durch seine trainierte Statur war Nikolai ein ausgezeichneter Schwimmer und ein schneller Läufer, er konnte an jedem Soldaten geräuschlos vorbeischleichen. Kolja wurde ein unverzichtbarer Informationsbeschaffer. Er bekam eine Stelle als Assistent des Schäfers und dann als Straßenarbeiter. So fand er auch heraus, was in Ostroschitski Gorodok passierte und gab diese Informationen an den Untergrund weiter. Die Untergrundschule von Ostroschitski Gorodok war sehr wichtig für die Partisanen, weil sie wertvolle Informationen sammelte und Medizin, Kleidung und Essen in den Wald schickte. Kolja Borowski und seine jugendlichen Kameraden sammelten und versteckten Waffen, um sie den Partisanen zu übergeben, verteilten Handzettel. Nikolai übernahm viele wichtige Aufgaben, riskierte oft sein Leben und zeigte Durchhaltevermögen und Einfallsreichtum.

Als er einmal mit zwei älteren Kameraden unterwegs war, die als Fahrer in der Straßenmeisterei arbeiteten, übernahm Kolja Borowski ein gepanzertes Auto der Deutschen und fuhr es direkt in den Wald. So wurde er selbst zu einem Partisanen und diente der Woroschilow-Einheit der Frunze-Brigade. Nikolai begann ein neues Leben im Militär: Er ging auf Einsätze, darunter auch eine Stürmung der deutschen Garnison. Borowski wurde in der Einheit sehr geschätzt: Er war ein mutiger und verlässlicher Kamerad bei Erkundungen.

Im Sommer 1943 gab es eine Katastrophe. L. N. Schestakowa erinnert sich: „In der Nähe des Dorfes Belorutschi wurde Kolja von den Deutschen gefangen genommen. Sie misshandelten Kolja sehr schwer und sehr lange, wobei sie den Standort der Einheit aus ihm herausprügeln wollten. Kolja schwieg. Sie brachten ihn nach Ostroschitski Gorodok und schlugen ihn erneut, um die Namen der Mitglieder aus der Partisaneneinheit zu erfahren. Aber Kolja sagte noch immer nichts. Sie zerrten ihn aus dem Stall, erschöpft und verprügelt wie er war, und hingen ein Schild um seinen Hals mit der Aufschrift: ‚Ich bin ein Bandit‘. Ein Draht mit einer Glocke wurde um seine Hände gewickelt. Offenbar war es dieselbe Glocke, die er manchmal läutete, als er in der Schule Dienst hatte und die Kinder in die Klassenzimmer gehen sollten. Kolja wurde von den Deutschen und Polizisten durch die Stadt geführt. Die Glocke läutete jämmerlich, wenn er durch Faustschläge oder Tritte mit dem Stiefel zu Boden ging.“ Augenzeugen berichteten, dass die Stadtbewohner weinten, als sie sahen, wie sie den jungen Widerstandskämpfer folterten. Seine Mutter war vollkommen in Schock, rannte im Hof ihres Hauses umher. Kolja weinte nicht und bettelte nicht um Gnade. Er ertrug alles sehr ruhig und mit Würde.

Der misshandelte Jugendliche wurde nach Minsk ins Gefängnis gebracht, von dort ins Vernichtungslager Maly Trostinez. Nikolai Borowski starb ohne jemanden zu verraten.

Am 6. Juni 1944 wurden acht Untergrundmitglieder des Komsomol aus Ostroschitski Gorodok verhaftet. Alle waren Kameraden von Kolja Borowski (Nina Stosui, Ljuba Wrubel, Tonja Stefanowitsch, Ljuba Makeitschik, Galja Prokofjewa, Wera Chatkowskaja und Raja Swetlowa), die später im Vernichtungslager Maly Trostinez verbrannten, zusammen mit einem ihrer Leiter des Untergrunds, Koljas Lieblingslehrer, Kirill Iwanowitsch Schestakow.

Nach dem Krieg

Die Bewohner von Ostroschitski Gorodok gedachten der Helden der Untergrundschule mit der Errichtung eins Denkmals (im Park gegenüber dem früheren Schulgebäude) für die Lehrer, Schüler und Einwohner von Gorodok, die während des Zweiten Weltkriegs starben.

Quellen:
*Elektronisches Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt Leonid Levin, Minsk, Belarus
http://zeitzeugenarchiv.gwminsk.com/ru/archiv/wettbewerb-2017/borovskiy-nikolay
*Erinnerung: Historische Dokumentation der Region Minsk, Minsk, БелЭн [BelEn], 1998.
*O. I. Simonowa, Wir müssen leben, 2. Ausgabe, Minsk, Belarus, 1971.
*A. N. Stifutkin, T. N. Tit (geborene Stifutkina) [Verwandtschaft von N. Borowski], Archiv der Oberschule Trostinez.
*I. K. Churko, [Lehrer der Oberschule in Ostroschitski Gorodok], Memoiren, Archiv des Museums von Ostroschitski Gorodok zum Militärgedenken.
*L. N. Schestakowa, [Lehrerin der Oberschule in Ostroschitski Gorodok], Memoiren, Archiv des Museums von Ostroschitski Gorodok zum Militärgedenken.

Ursula Brecht (neé Lindemann)

Wird am 16. März 1928 in Köln-Marienburg geboren.

1944

15 Oktober (24.00)
Ich habe Nachtwache. Jeder der Familie muß 2 Stunden in der Nacht wachen, wegen der Flieger. Denn Alarm gibt es nicht mehr und wir wollen uns nicht überraschen lassen. Heute morgen wieder ein Angriff. Ich schälte im Fort 8 Kartoffeln für die Ausgebombten, als das bekannte, unheimliche Brummen und gleich darauf auch das Rauschen der Bombenteppiche einsetzte. 2 Stunden zitterten wir. Es war wieder schlimm. Im Fort gibt es keinen Keller, wir hockten im Gang und drückten uns an die Wand. Denken kann man da nichts, man stumpft ja so ab und steht den Gefahren fast gleichgültig gegenüber. Nach jedem Angriff denkt man: „Es ist noch mal gutgegangen, wie lange noch?“ Was morgen ist denkt man gar nicht mehr, vielleicht ist morgen schon nichts mehr. Nach dem Angriff hetzte ich mit dem Rad nach Hause, - es stand noch alles, aber ringsumher brannte es. Die Mülheimer Brücke liegt im Wasser, die Rodenkirchner Brücke ist schwer getroffen und nicht mehr befahrbar. Jetzt gießt es draußen - und die Menschen, die obdachlos sind? - Nein, nicht denken, morgen gehören wir vielleicht auch dazu. Am Nachmittag war ich mit Dodo im Auto bei den Betrieben in Frechen, ich fahre dann immer mit ihm, denn er soll auf diesen gefährlichen Fahrten nicht alleine sein. Ich bin die einzige, die dafür in Frage kommt, sonst ist niemand da, und außerdem bin ich ja auch bald ein halber Soldat, - manchmal komme ich mir so vor, wenn ich bei dem wüsten Geschieße auf meinem Rad sitze um irgendwo Brot und sonst Lebensmittel zu bekommen. Ich beiße die Zähne aufeinander und denke: „Quatsch, du mußt durch, die Soldaten kneifen auch nicht!“ Vor einem halben Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten-. Es brummt, ich muß die anderen wecken.

26 Oktober
Gerade bin ich mit meinen Leiterwagen, auf den ich unsere ganze Wäsche gepackt hatte, die ich in Rodenkirchen an der Pumpe ausspülen wollte, unverrichteter Sache nach Hause gerasselt gekommen, es schoß so sehr, daß mich der Mut verließ und ich schnellstens nach Hause lief. Nun wird vernebelt und ich höre schon die Flieger.

Hier in Köln passieren in der letzten Zeit schlimme Dinge. Man hört von Raubmorden und Überfällen. Auf den Straßen ist man nicht mehr sicher. Daß die Menschen diese Notzeit für sich ausnutzen und so etwas tun, es ist nicht zu begreifen.

Die Front ist in den letzten Tagen unheimlich ruhig. - Gestern bekamen wir von der Ortsgruppe die Nachricht, daß mein Vetter Karl-August vermißt ist, er war bei Hertogenbosch. Auch Günther läßt nichts von sich hören. Von den Brüdern nichts. Es soll keine Post mehr nach Köln kommen. Überall heißt es “Frontstadt Köln”. Wenn uns nur die Flieger endlich in Ruhe ließen. Man kommt einfach nicht mehr zu sich selbst. Vielleicht ist das gut so? Ich weiß es nicht.

27 Oktober
Zwei Briefe von Hans vom 2. und 13.10. Gott sei Dank es geht ihm gut. Wir sind alle ganz selig und die Welt sieht gleich rosiger aus. Wir hoffen alle, daß wir jetzt hier in Köln die schwerste Zeit überstanden haben. Es lohnt sich bestimmt nicht mehr, hier noch anzugreifen. Es ist ja alles lahmgelegt. Jeglicher Verkehr hat aufgehört und in Wesseling wird schon seit 3 Wochen nicht mehr gearbeitet. Wir sind alle zuversichtlicher geworden und haben wieder etwas Hoffnung. Mein Leben besteht augenblicklich aus: für Wasser anstehen - Brotjagd - im Fort 8 Kartoffeln schälen - und im Keller sitzen! Fabrik und die Arbeit hab ich aufgesteckt, erstens komm’ ich gar nicht mehr hin, zweitens ist die Fabrik abgebrannt, drittens würden die Eltern es mir nicht mehr erlauben.

Vorhin hab ich mich an den Flügel gesetzt und geübt. Ja richtig mit Konzentration 2 Stunden geübt. In mir war eine solche Freude über die Briefe von Hans, daß ich das irgendwie ausdrücken mußte. Und da hab ich die Romanze aus dem Klavierkonzert d-moll von Mozart geübt.

Und nun bin ich ganz beschwingt und fröhlich und muß Wasser holen!

[…]

4 November
Gerade komme ich aus Bayenthal [Anm.: ein Stadtteil Kölns]. Mal wieder umsonst. Kein Brot, kein Fleisch kein Gemüse, kein Wasser, - kein Nichts! Nun versuche ich seit 3 Tagen Brot zu bekommen und immer vergebens. Es sind ja keine Geschäfte mehr da. Unsere Wasserpumpe in Rodenkirchen ist durch Bomben in die Luft geflogen. Das war ein Gedöns bis ich endlich wieder eine Wasserquelle gefunden hatte. Ich war in Bayenthal, in Zollstock und überall gab es kein Wasser. Schließlich haben wir verzweifelt das Regenwasser aufgefangen, aber wir müssen so sparsam damit umgehen. Wir laufen alle fürchterlich dreckig herum. Aber was tut das in dieser Zeit. Gestern habe ich nun eine Quelle im Tacitusbunker entdeckt, wo man auf Wasserkarten einmal am Tag Wasser holen darf. Ja, Wasser ist für uns das kostbarste Gut augenblicklich. Aber wir sind ein ganz kleines bißchen zuversichtlicher. 2 Tage hatten wir keine Angriffe und konnten 2 Nächte fast ungestört schlafen. Wie gut tat dieser Schlaf!! Wir wohnen hier in der Parkstraße allmählich allein. Alle Nachbarn und Bekannten haben fluchtartig Köln verlassen. Es ist richtig einsam geworden. Und dauernd ist Alarm und die Front schießt.

Wir haben gehört, es sei ein Ultimatum an Köln gestellt worden, was natürlich abgelehnt worden ist. Ach wäre es doch nur angenommen worden. Ich weiß, das ist wieder undeutsch von mir gedacht, aber nun müssen wir hier noch mehr durchmachen, Köln wird weiter zerstört und so viele Menschen kommen ums Leben. Nein, nein es wäre so gut, wenn das alles ein Ende hätte.

Köln, 27 November, abends
Eben haben wir ein Paket von Klaus letzten Habseligkeiten vom 7.10. zurück bekommen. Wir ahnen, was das bedeutet und sind auf das Schlimmste gefaßt. Wenn man doch irgendwie Gewißheit über sein Schicksal hätte! Aber so - es ist für alle schwer

Köln, 21 Dezember, nachts
Der Hans ist da! Vor drei Stunden kam er an. Er hat bis zum 10.1. Urlaub bekommen weil er so lange keine Nachricht von uns hatte, und Köln ja fast schon zum Frontgebiet gehört. Nun kommen alle Freuden auf einmal! Was wird Weihnachten nun schön!

Köln am 1. Weihnachtstag
Den gestrigen Weihnachtsabend werde ich nie vergessen können. Wir haben fast den ganzen Abend im Bunker gesessen. Natürlich war ein Angriff. Daß unsere Feinde so gemein sein können! Zwischen den Wellen raste ich mal schnell aus dem Keller rauf und drehte vom Drahtfunk auf den Reichssender Köln und wirklich - Max Bruchs Violinkonzert erklang – Wie immer am Heilig Abend. Danach kam “Stille Nacht, heilige Nacht”. Durch die offene Türe kam Brandgeruch herein, draußen schoß es, - die Stille Nacht und der Tod waren so nahe. Es war unfaßbar.

Und heute ist es eiskalt, aber trotzdem den ganzen Tag Flieger. Trotz allem ist Weihnachten Hansel ist da und wir vier sind glücklich zusammen.

Köln, 31 Dezember
Ich sitze im Bunker, der uns nun mit den anderen Kellern alles ersetzen muß. Unser Haus ist gestern bei dem Angriff restlos zerstört worden. Um 21 Uhr fing es an. Es war das Fürchterlichste. Die Bomben hagelten so nahe herunter, der Bunker wackelte hin und her, es war so staubig und wir hielten uns alle feuchte Tücher vor Mund und Nase. Wir hörten draußen die Brandbomben aufklatschen und explodieren. Es war ein Höllenlärm und wir glaubten, nicht mehr lebend heraus zu kommen. Als das Krachen endlich nachließ hörten wir, wie es vom Haus herunterrieselte. Vater stürzte rauf und auf einmal schrie er: „Feuer, Feuer alle rauf“. Oben brannte der ganze l. und 2. Stock schon lichterloh. Nun begannen wir regelrecht um das Treppenhaus zu kämpfen. Dodo hackte mit einer Axt das Holzgeländer ab und wir anderen schleppten wie rasend zentnerschwere Sandsäcke aus dem Keller rauf und bestreuten die ganze Treppe damit. Dann kam Wasser drauf - das Feuer durfte nicht runterkommen. Wir nahmen an, daß die Betondecken zum Parterre das Feuer aufhalten würden. Und so richteten wir unsere gesamte Aufmerksamkeit aufs Treppenhaus. Fremde Leute, die zum helfen kamen, brachten schon die Möbel aus den Wohnzimmern raus. Und welch ein Glück war das. Die Decke zum Eßzimmer stürzte ein - wir hatten keine Betondecken - wir hatten uns geirrt! Nun raste das Feuer. Wir brachten so schnell wie möglich die Sachen raus auf die Straße und in den Garten. Zu viert hoben wir den Flügel zum Fenster raus. Dann krachte alles ein. Einen Moment stand ich im Garten und sah auf dieses so traurige Schauspiel. Es schneite und das Haus brannte nieder. Und ich sah einen Teil nach dem anderen von meinem geliebten Zuhause in den Flammen verbrennen. Fast wollte ich weinen, aber dann packte mich wieder die Wut und ich raste mit den anderen zu Teschendorfs Garten um im Bassin Wasser zu holen. Aber es war nichts mehr zu retten, das Feuer fraß alles was es haben wollte. Nun begannen wir um den Keller zu kämpfen - und noch sind wir dabei, wenn uns das doch wenigstens gelingt. Unten haben wir unsere ganzen Sachen, wenn das auch noch in den Flammen aufgeht sind wir bettelarm.

Quellen: Die Texte zur Veröffentlichung wurden freundlicherweise von den Organisatoren der Projektseite 'Jugend in Deutschland: 1918-1945' zur Verfügung gestellt: https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/zeitzeuge.aspx?root=27120&id=2712.

Gerda Altpeter (geb. Rappaport)

Geboren 1926, aus Essen, einer Stadt im Ruhrgebiet und dem Bundesland Nordrhein-Westfalen, Deutschland.

Kurzbiographie

Gerdas Vater, Philipp Rappaport ist ein international renommierter Bauingenieur und Stadtplaner und leitet als Direktor den Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk [Anm.: ein Verband, der sich mit der Planung und dem Bau von Bergbaugemeinden befasste]. Gerda und ihre drei älteren Brüdern wachsen in entsprechend wohlhabenden Verhältnissen auf.

Mit dem Jahr 1933 endet jäh das sorgenfreie Leben der Familie, denn obschon sich die Rappaports bereits um 1880 hatten evangelisch taufen lassen, gilt Philipp gemäß der rassenideologischen Kriterien der Nationalsozialisten fortan als Jude, seine Kinder sind „Mischlinge 1. Grades". Wenige Monate nach der NS-Machtübernahme verliert der Vater zudem seine Stellung.

Kriegszeit-Erinnerungen

Im Sommer 1942 ist der Schulbesuch für Gerda und ihren jüngsten Bruder Werner-Karl vorzeitig beendet. Ohne jede Vorahnung war die knapp Sechzehnjährige in die Sommerferien gegangen. „Mit einem Mal kamen neue Gesetze“, die so genannten „Mischlingen" künftig einen Schulbesuch ab der 7. Klasse nicht mehr erlauben. Gerda wird unmittelbar nach Ferienende vom Prorektor der Maria-Wächtler-Schule in sein Büro bestellt. Wie der Direktor ist er ein überzeugter Nationalsozialist, doch beide respektieren offenbar die Leistungen der sehr guten Schülerin. „Es tut mir furchtbar Leid", habe sich der Prorektor entschuldigt. Das hilft Gerda aber nicht zurück in die Schule. „Das war furchtbar für mich. Ich habe dann versucht, alleine weiter zu lernen." Allerdings lassen die Arbeitsbelastungen im nun zu absolvierenden „Pflichtjahr" konzentriertes Lernen nicht mehr zu. […]

Die schwierige Situation von Gerda und ihrer Familie wird durch den Bombenkrieg, der mit immer größerer Härte die Industriestadt Essen trifft, immer weiter verschlimmert. Die Rappaports dürfen nicht in die öffentlichen Bunker und müssen die schweren Angriffe zu Hause im Keller überstehen. Die ständige Bombardierung, der nächtliche Schlafentzug und die permanente Bedrohung des eigenen Lebens habe sie, so Gerda Altpeter heute, körperlich und seelisch „fertig gemacht".

Sie habe aber nichts davon bemerkt, dass zu diesem Zeitpunkt bereits die ersten Deportationen aus dem Rheinland in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten laufen. Doch die Bedrohung wird auch für ihre Familie immer konkreter. Seit 1941 muss der Vater den „Judenstern" tragen: „Er ist kaum noch rausgegangen. Nur noch zu Gottesdiensten, und dann hat er es unter dem Kragen getragen." […]

Pflichtjahr in Marl: „Die waren ganz froh als ich kam“.

Nach der Entlassung aus der Schule muss Gerda das Pflichtjahr ableisten. Als sie das Angebot erhält, eine Stelle im besetzten Polen anzunehmen, lehnt sie ab und zieht aus genauen und nüchternen Erwägungen eine Anstellung bei einer Pfarrersfamilie in Marl vor: „Ich wollte in der Nähe bleiben, ich wollte echt helfen, ich wollte was lernen und ich wollte im christlichen Bereich bleiben.“

Die Entscheidung für die Stelle in Marl, die über die evangelische Kirche in Essen vermittelt wird, erweist sich als gut, denn der Kontakt zur Familie gestaltet sich eng und freundlich. Der Ehemann steht als Offizier an der Front und so hilft Gerda der Pfarrersfrau mit ihren fünf Kindern. „Die waren ganz froh, als ich kam.“ Gerda bekommt ein eigenes kleines Zimmer, die Verpflegung ist sehr gut und alle 14 Tage kann sie ihre Eltern im nahen Essen besuchen. […]

„Das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein.“

Nach Abschluss des Pflichtjahres kann Gerda zum 1. Oktober 1943 eine Stelle bei dem Essener Chemieunternehmen Goldschmidt AG antreten. Sie arbeitet als Gehilfin in einem Chemielabor an als kriegswichtig eingestuften Versuchen zur Veredelung von Eisen mit. Diese Arbeit sei „hochinteressant“ gewesen. Doch schon Ende 1943 wird ihre Abteilung aus dem stark bombardierten Essen in das österreichische Villach evakuiert.

Gerda lehnt es ab, nach Österreich zu gehen. In Anbetracht der Verfolgung ihrer Familie möchte sie lieber an einem bekannten Ort mit vertrauten Personen bleiben: „Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann in Villach. Du kennst da keinen Menschen. Keiner wird dir helfen, Du kannst dich auf keinen verlassen.“

So bleibt sie in Essen. […] Hier erreicht sie im Juli 1944 die Nachricht vom vermeintlich geglückten Hitler-Attentat: „Ich hatte von vornherein keine große Hoffnung. Das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein." Nach wenigen Stunden der Ungewissheit kommt die Bestätigung: Hitler lebt - und der Krieg geht weiter.

Evangelische Jugendarbeit im Krieg: „Meine Güte, du bist so gefährdet, machst du das auch noch.“

Parallel zu ihrer Arbeit ist Gerda auch 1944 noch für die evangelische Kirche aktiv. Aus dem Umfeld der Stadtmission von Vikarin Kaufmann wird sie für Sammlungen für die Pfarrer der Bekennenden Kirche rekrutiert. Sie geht in Essen von Haus zu Haus und wirbt für Unterstützung für die oppositionellen Geistlichen, die aus der systemkonformen evangelischen Landeskirche ausgeschlossen sind. Ein gefährliches Engagement, schließlich wird Gerda als „jüdischer Mischling“ verfolgt und setzt sich gleichzeitig noch für die christliche Opposition ein: „Ja, warum nicht?" sei ihre Reaktion auf den besorgten Einwand „meine Güte, Du bist so gefährdet, machst Du das auch noch!“ gewesen.

Für Zerstreuung sorgt mitten im Kriegschaos eine Freizeitfahrt des Helferkreises der Stadtmission in den Westerwald im Juli 1944. „Urlaub von Allem" sei es gewesen: von der Bedrohung durch die Bomben, der Verfolgung als „Halbjüdin“ und der gefährlichen Arbeit für die Bekennende Kirche.

Doch auch die Ferienfreizeit ist nicht unbeschwert. Die Mädchen müssen getrennt in den Westerwald fahren, um nicht als geschlossene Gruppe aufzufallen. Und dort erwarten sie nicht nur Zerstreuung und Spiel oder ernste Bibelarbeit, sondern auch ganz konkrete Vorbereitungen auf die illegale Werbetätigkeit für die evangelische Kirche in Essen. Die Jugendlichen erhalten Argumentationstraining und üben den Dialog in Werbegesprächen für die Kirche.

Deportation des Vaters: „Es war ein Sonntagmorgen.“

Eines Sonntagmorgens im September 1944, Familie Rappaport will gerade zur Kirche aufbrechen, klingelt das Telefon: „Gestapo, bitte kommen Sie!" Philipp Rappaport macht sich in Begleitung seiner Ehefrau auf den gefahrenvollen Weg. Ein Gestapo-Beamter gibt ihm eine Liste mit rund 100 Personen, die am folgenden Tag deportiert werden sollen, darunter auch er selbst. Er soll die übrigen Personen informieren und sich anderntags zum Abtransport am Bahnhof einfinden. […]

Philipp Rappaport […] bereitet sich auf die anstehende Deportation vor. Die Familie ahnt, dass sein Leben in höchster Gefahr ist. Doch sein ältester Sohn geht ihm tatkräftig zur Hand: „Jetzt packen wir dir einen Koffer, der dir das Überleben vielleicht ermöglicht", versucht er den Vater aufzumuntern. Im spätsommerlich warmen September wird vor allem warme Kleidung für den bevorstehenden Winter eingepackt.

Am nächsten Tag begleiten Gerda und ihre Mutter Philipp Rappaport zum Bahnhof. Es haben sich bereits zahlreiche Personen eingefunden, die von SS und Gestapo den Waggons zugeteilt werden. Gerda muss weiter zu ihrer Arbeitsstelle. Der Abschied fällt schwer: „Das hätte der Abschied für immer sein können. Das haben wir auch angenommen."

Flucht vor der eigenen Deportation: „Ich sollte abtransportiert werden.“

Gerda begibt sich direkt zu ihrer Arbeitsstelle bei Goldschmidt, wo sie umgehend zum Personalchef bestellt wird. Dieser teilt der verwunderten jungen Frau unvermittelt mit: „Sie sind krank! Gehen Sie zu Ihrem Hausarzt.“ Obwohl sie keineswegs erkrankt ist, befolgt Gerda die Anweisung. Auch der Arzt bestätigt: „Ja, ja, Sie sind krank.“ Er stellt Gerda ein Attest mit einer ihr unbekannten Krankheit aus und überweist sie zur Kur. Erst später erfährt Gerda die Zusammenhänge: Ihr Hausarzt sitzt abends häufiger mit Gestapobeamten in der Gastwirtschaft, wo er von ihrer akuten Gefährdung erfährt und den ihm bekannten Personchef informiert, der wiederum Gerda warnt.

Unterstützt von diesen beiden Männern entgeht sie der offenbar unmittelbar bevorstehenden Deportation und bricht gemeinsam mit ihrer Mutter zu Verwandten in Bad Salzuflen auf. Da in den Kriegswirren das Zugnetz zusammengebrochen ist, führt der Weg schließlich aber zur Familie ihres Onkels in Hiddesen.

Als die Mutter allein nach Essen zurückkehrt, erfährt sie, dass der Aufruf zu Gerdas Deportation zwischenzeitlich tatsächlich eingetroffen ist. Die Haushaltshilfe hat das Schriftstück jedoch kurzerhand mit dem Vermerk „verreist" zurückgeschickt. Nach einigen Wochen kehrt auch Gerda zurück nach Essen. Der Arzt, der ihr die Flucht ermöglicht hat, gibt Entwarnung: Die Gestapo-Zentrale sei bei einem Bombenangriff zerstört worden, alle Unterlagen vernichtet. Eine Deportation drohe - vorerst - nicht.

Quelle: Die Texte zur Veröffentlichung wurden freundlicherweise von den Organisatoren der Projektseite 'Jugend in Deutschland: 1918-1945' zur Verfügung gestellt: https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/zeitzeuge.aspx?root=1701&id=1701.

Stanisław R.

1927 geboren, Gemeinde Wołkowysk, Woiwodschaft Białystok, Polen.

Die Ankunft der Russen in Polen war sowohl traurig als auch erfreulich. Für einige Juden, Belarusen und Ukrainer war sie erfreulich, aber für die Polen war sie schrecklich und hart. Die Bolschewiken riefen Versammlungen aller Bauern ein, und diese sollten ihre Abgaben bestimmen. Sie mussten ihre Kühe, Pferde, Schweine, Hühner und alles andere abgeben. Alle Überschüsse mussten abgegeben werden. Wenn man zum Beispiel sechs Kühe hatte, musste man vier an das Militär abtreten. Wer nicht zustimmte und kein Land abgeben wollte, dem wurde alles mit Gewalt abgenommen, und der Bauer wurde entweder verhaftet oder getötet. Viele Polen bekamen eine Gefängnisstrafe. Am 10. Februar 1940 begannen sie, unsere Leute zu deportieren: Sie wurden zur Arbeit geschickt, aber niemand wusste wohin.

Die Reise war hart, und die Menschen hatten weder ausreichend Essen noch Wasser. Wir hatten weniger als 15 Minuten zum Packen, und alle, die zurückgehen wollten, wurden mit Gewehrkolben geschlagen und ihnen wurde mit dem Tod gedroht. Wir durften nur das mitnehmen, was wir tragen konnten, dazu 50 Kilogramm Nahrung, zusammen mit dem Bettzeug und anderen Dingen. Während des Transports durften wir die Wagen nicht verlassen. Es war dort dunkel und dreckig, und es stank, weil sie darin zuvor Vieh transportierten.

Alle drei Tage gaben sie jeder Person 100 Gramm Brot, ein paar Tropfen Suppe und eine kleine Portion Hafer. Viele Leute wurden krank und starben wegen fehlender medizinischer Hilfe. Die Reise dauerte zwei Wochen. Wir wurden zum Ural gebracht, wo wir winzige Wohnungen für zwei Familien bekamen. Alle über 13 Jahre mussten arbeiten: Es war harte Arbeit. Wir mussten Holz auf Lastwagen laden und Torf mit der Hand schneiden.

Vater arbeitete in einer Mine und wurde von herabfallenden Steinen verletzt. Er wurde auf einem Rollwagen aus der Mine transportiert und ging zu einem Arzt. Dort wurde ihm allerdings erzählt, dass seine Verletzungen nicht der Rede wert waren. Er wurde mit 25 % weniger Lohn für sechs Monate abgestraft. Vier Tage später kam er in ein Krankenhaus, in dem er sich 14 Tage von den Kopf- und Rückenverletzungen erholte.

Es gab Probleme mit dem Essen: Es war hart, es zu bekommen. Jeder Arbeiter bekam 600 Gramm Brot, und Arbeitsfreie bekamen 20 Gramm. Jeder Arbeiter bekam 500 Gramm Mehl für fünf Tage, 500 Gramm Hafer und 100 Gramm Schmalz. Arbeitsfreie bekamen nichts.

Von uns Polen durfte niemand auf den Markt. Wer erwischt wurde, ging direkt ins Gefängnis. Ich war sieben Tage im Gefängnis, weil ich Kohl, Kartoffeln und ein Kilogramm Brot auf dem Markt kaufte. Ich schnitt Torf. Die Bezahlung war miserabel: zwischen 100 und 200 Rubel pro Monat. Die Polen wurden mit abscheulichen Namen beschimpft, nur weil sie Polen und Katholiken waren. Sie sagten: „Eure Chance, Polen und Kirchen wieder zu sehen, sind genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit, dass ich mein Ohr ohne einen Spiegel sehe.“ Sie beschimpften und verfluchten Gott und Religion auf Teufel komm raus. Sie ließen weder Briefe noch Pakete aus Polen durch, und sie misshandelten uns wie sie nur konnten. Nach der Befreiung misshandelten sie uns nicht mehr so sehr, aber sie wollten uns das restliche Gehalt nicht mehr zahlen.

Wir wurden 1942 näher an die Grenze zu Persien transportiert, aber dann ging es doch in eine ganz andere Richtung: Wir sollten in Kasachstan in Kolchosen (kollektive Landwirtschaftsbetriebe) arbeiten, weil dort Arbeitermangel herrschte. Wir wohnten dort in Lehmhütten ohne Ofen, Türen oder Fenster. Das Leben war dort hart. Wir wollten uns Heu für die Betten und Benzin holen, aber wir durften keine Pferde benutzen, deshalb mussten wir alles zwei Kilometer auf dem Rücken tragen. Nach einem Monat erkrankten wir an enterischem Fieber. Wir lagen ohne medizinische oder soziale Versorgung in dieser Lehmhütte. Wir wurden währenddessen bestohlen, und niemand konnte sich um uns kümmern, da wir dutzende Kilometer von unseren Freunden und Verwandten entfernt lebten. Unsere Nachbarn (Kasachen) wollten uns gar nicht helfen, außer einer Frau, die uns Wasser brachte, und Heu für ein Feuer, im Austausch mit Benzin.

Nachdem ich 16 Tage lang krank war, musste ich trotz meiner Erkrankung und Erschöpfung zur Arbeit. Ich war der Älteste in unserer Familie. Vater und Mutter waren zwei Monate sehr krank, also musste ich Schwerstarbeit leisten, um unsere Lebensgrundlage und Kleidung zu finanzieren. Ich arbeitete 12 Stunden pro Tag ohne Mittagessen auf der Kolchose. Nach der Arbeit reparierte ich zu Hause Schuhe, um mir eine Scheibe Brot und etwas zum Anziehen zu verdienen. Wir liefen wie Bettler in Fetzen herum. Mein monatlicher Verdienst waren 20 Kilogramm Mehl, zwei Kilogramm Fleisch, ein halbes Kilogramm Zucker und ein Kilogramm Salz. Zucker und Salz gab es nur bei guter Arbeit.

Quelle: Der Krieg durch Kinderaugen: Die sowjetische Besatzung von Polen und die Deportationen, 1939–1941 (Kindle-Edition), von Jan T. Gross (Verfasser), Irena Grudzin’ska-Gross (Herausgeberin), Bruno Bettelheim (Vorwort), Übersetzung ins Englische: Ronald Strom, Dan Rivers https://www.amazon.com/dp/B07VJJTCPB/ref=nav_timeline_asin?_encoding=UTF8&psc=1.

Teresa Sosnowska

Meine Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg vom 1. September 1939 bis heute, 8. Juni 1946.

Wir lebten auf der anderen Seite des Flusses Bug, in Sokal, als der Krieg zwischen Polen und Deutschland ausbrach. Als der Krieg begann, kam es auch gleich zu Bombenangriffen. Menschenmassen waren auf der Flucht von West nach Ost, und sie sagten uns, dass die Deutschen die Menschen mit der Frontverschiebung einfach töten würden. Papa brachte uns also ins Landesinnere und ging selbst Richtung Osten, er folgte allen anderen und dachte, dass er den polnischen Truppen beitreten würde, die gerade gebildet wurden.

Wir blieben einige Wochen im Landesinneren und kehrten dann in den Ort zurück, der von den Sowjets eingenommen wurde. Mama sah, was passiert war, und sie machte sich große Sorgen um Papa. Sie ging nach draußen und als sie gerade weg war, kam unser Papa, auf den wir so lange gewartet hatten, wieder zurück. Seine Füße waren geschwollen, und er war müde und stand unter Schock. Mama kam kurz darauf auch nach Hause. Irgendwann erzählte er uns, was er durchgemacht hatte. Wir waren sehr schockiert.

Papa ruhte sich ein paar Tage aus und bekam dann eine neue Arbeit. Aber die neue Arbeit brachte nur einen Hungerlohn ein. Wir waren also arm: Wir hatten nur Pfannkuchen aus Grieß und schwarzen Kaffee mit Süßstoff.

Im Winter begannen sie, viele Menschen nach Sibirien umzusiedeln. Wir waren auch schon bereit, schliefen in unserer Alltagskleidung und lauschten nach dem kleinsten verdächtigen Geräusch. Ein ganzes Jahr lebten wir so in ständiger Angst.

Aber im nächsten Jahr brach ein neuer Krieg aus: zwischen den Sowjets und den Deutschen. Er begann am 22. Juni 1941. Die erste Bombe über dem Fluss Bug fiel um 2 Uhr früh. Und so begann der Krieg. Wir wachten auf und versteckten uns im Flur. Der Tür war weit offen, und wir konnten sehen, dass die Nachbarshäuser und die Bäume in unserem Garten brannten. Und wir hörten einen furchtbaren Heulton und viel Krach. Es war sehr beängstigend und dauerte eine Stunde an. Als die ersten Feuer ausgebrannt waren, flohen wir schnell in den Keller. Dann war die Front hinter uns, und die Deutschen nahmen die Stadt ein. Wir waren noch immer arm, obwohl Papa arbeiten ging.

Einmal verließ Papa die Stadt und kehrte erst spät wieder zurück. Er war so verärgert, dass er kein Wort sagte. Er beruhigte sich nach einer Weile und sagte uns, dass die Ukrainer ihn in einen Keller verschleppten. Aber zum Glück erschien in diesem Moment ein Deutscher. Der Deutsche fand heraus, dass die Anschuldigungen meinem Vater gegenüber haltlos waren. Er schlug einem Ukrainer auf den Mund und ließ Papa gehen.

Nach einer Weile zogen wir nach Kamionka Strumiłowa um, wo sich unsere Lage verbesserte. In Kamionka blieben wir zwei Jahre. In dieser Zeit erhielten wir die schreckliche Nachricht, dass Papas Cousin getötet worden war.

Danach gingen wir nach Lwiw, weil wir Angst vor den Ukrainern hatten. Das war kurz vor Ostern. Es wurde Ostermontag und wir besuchten meine Tante. Wir kehrten nach Hause zurück und machten uns für das Bett fertig. An diesem Abend, einige Leute schliefen schon, saßen Mama und ich noch in der Küche, als wir wurden plötzlich durch eine Explosion halb taub wurden. Wir flohen in Windeseile in den Keller, weil ein Luftangriff im Anflug war. Er dauerte die ganze Nacht.

Es gab dann jede Nacht Bombenangriffe, aber am 13. Mai gab es für uns eine Pause. Wir zogen von Lwiw nach Łańcut um, das die Deutschen sechs Monate vorher verlassen hatten. Die Sowjets griffen ohne große Mühe an. Der Angriff dauerte nur eine Nacht.

Wir waren wieder arm. Wir sind nach Chełm gezogen, wo wir wie in Łańcut arm waren, zudem mussten wir aber auch in einem Keller hausen. Wir kamen so einen Monat durch. Wir zogen dann nach Hrubieszów. Oma kam mit furchtbaren Nachrichten zu uns: Opa wurde in Lwiw verhaftet und in den Donbass deportiert. Letztendlich gab es dann aber einen kleinen Hoffnungsschimmer: Opa kam nach einem Jahr wieder. Es gab in demselben Jahr ein paar Feuer in Hrubieszów, und wir hatten vor kurzem auch einen Luftangriff.

Quelle: Meine Kriegserlebnisse. Kindergeschichten von 1946, Pilecki-Institut, Warschau, 2019. URL: https://instytutpileckiego.pl/en/publikacje/moje-przezycia-wojenne-wypracowania-dzieci-z-1946-roku.

Klaus Schlimm

Am 16. Juli in Magdeburg geboren, zog nach Essen.

Im Jahr 1938 zog Familie Schlimm nach Essen, wo Vater Reinhold fortan als Industrievertreter für hochfeuerfeste Baustoffe arbeitete. Da er dadurch jedoch überwiegend mit Betrieben der Rüstungsindustrie zu tun hatte, sah er sich schließlich gezwungen, „gegen seine Überzeugung Parteimitglied zu werden".

Klaus kannte als Kind persönlich keine Juden. Später erinnerte er sich, dass er einen Laden mit eingeschlagenen Scheiben sah. Das war am 9. November 1938, die Ladeneigentümer waren Juden mit dem Namen Rosenbaum. Zuhause erzählte er davon und sagte: „Ich hätte euch ein Bügeleisen mitbringen können.“ Sein Vater bat ihn daraufhin inständig, sich nie an solchen Aktionen zu beteiligen.

Kriegsbeginn

Ab einem Alter von 10 Jahren begann Klaus sich auf den Krieg vorzubereiten. Er nahm an Luftangriffsübungen teil und lernte, wie er sich bei Beschuss zu verhalten hatte.

Am 1. September 1939 war Klaus gerade bei seinem Onkel im Hunsrück, denn es waren ja Ferien. Den Übergang vom Frieden in den Kriegszustand nahm er als sehr abrupt wahr: „Dann war es auch nicht mehr zu bremsen, dann herrschten andere Gesetze, ab morgen und ab sofort. […] Hitler schritt ja von Sieg zu Sieg.“ Der Junge war zunächst begeistert vom Krieg. Auf einer großen Karte in seinem Zimmer markierte er bei jedem Sieg die eroberten Orte mit Fähnchen und freute sich, je mehr Gebiete „heim ins Reich" kamen. Die allseits vorherrschende rassistische Sprache färbte auch auf ihn ab, und Klaus übernahm sie teilweise.

Wenn auch die Kämpfe weit entfernt stattfanden, so war der Krieg doch im Essener Alltag schnell und deutlich spürbar. „Die Verdunkelung war für das kindliche Leben eine ganz einschneidende Veränderung.“ Die Laternen blieben abends aus und auch die Auto- und Motorradscheinwerfer waren bis auf einen schmalen Streifen zugeklebt. Außerdem wurde streng kontrolliert, ob die Fenster richtig verdunkelt waren. „Wenn irgendeiner unkorrekt verdunkelt hatte, dann brüllte der Luftschutzwart ‚Licht aus!'“.

Die ersten Bomben fielen in Essen schon 1940, was Klaus Schlimm im südlich gelegenen Stadtteil Werden aber nur am Rande wahrnahm. Zwar hörte er die Alarme und sah nach Angriffen den roten Himmel über der Innenstadt, aber der Bombenkrieg blieb zunächst eine Angelegenheit, die ihn nicht unmittelbar betraf. Oft gingen die Bewohner hinaus und schauten sich an, was am Himmel vor sich ging. Klaus empfand das Granatfeuer „wie ein Gewitter“. Dass in dem Moment da oben Menschen starben, machte er sich nicht bewusst. Als die Schule getroffen wurde, freuten sich die Schüler: „Hurra, die Schule brennt!“

Bei allen bangen Stunden, die auch Familie Schlimm im Bombenkrieg durchleben musste, hatte sie doch das Glück, weder körperliche noch materielle Schäden zu erleiden, während in ihrem unmittelbaren Umfeld viele Menschen hart getroffen wurden. Als einer seiner Schulfreunde ausgebombt wurde, fragte Klaus: „Sag mal, wenn uns das mal passieren sollte, wie muss man sich denn verhalten, worauf kommt es denn da an?" Der Schulfreund gab ihm dann entsprechende Tipps, wie man sich „im Falle des Ausgebombtwerdens“ verhält.

„Im Lauf der Zeit wuchs auch so etwas wie eine stoische Gelassenheit“, erinnert er sich heute, auch bei jenen, die schon bei Bombenangriffen verletzt worden waren oder ihr Zuhause verloren hatten. Klaus selbst blied dies allerdings erspart. Nur im Schlaf wird er manchmal in den Keller getragen und wundert sich dann, wenn er morgens dort wach wird.

Kinderlandverschickung nach Tschechien

Als die Luftangriffe auf Essen zunahmen, wurde auch die Kinderlandverschickung verstärkt.

Im Frühjahr 1943 hieß es schließlich für Klaus und seinen Bruder Henning Kofferpacken für die Evakuierung. „Ich habe furchtbar geweint“, erinnerte sich Klaus Schlimm an den Abschied auf dem Bahnsteig. „Das waren diese Kriegsabschiede, da war ich irgendwie wütend." Als dann aber im Abteil fröhlich gesungen wurde, beruhigte er sich wieder.

Das Ziel war Bad Podiebrad in Tschechien, wo ihm auf Anhieb die landestypische Architektur gefiel. „Wir waren in dem Lager ‚Weißes Kreuz', einer beschlagnahmten Pension.“ Im selben Ort befanden sich noch zahlreiche andere Schulklassen. „Zum Teil waren es Tausende, wenn nicht zehntausende Kinder.“ Manchmal waren es so viele, dass sie die einheimische Bevölkerung im Straßenbild weit in den Hintergrund drängen.

„Eine merkwürdige Unbefangenheit haben wir da gehabt“, wundert sich Klaus Schlimm im Nachhinein. So unternahm er in der Umgebung von Bad Podiebrad mit einem Freund kilometerlange Wanderungen. Die Jungs spürten keine Gefahr, wanderten völlig unbeschwert und trafen auch immer wieder Einheimische, die weiter kein großes Interesse an ihnen zeigten.

Das Essen war „sehr gut", das Hotel wurde von Tschechen geführt und es wurde natürlich tschechisch gekocht. „Die Schule war in einem sehr modernen Schulgebäude, aus dem man die Tschechen rausgeschmissen hatte.“ Wohin die einheimischen Schüler ausweichen mussten, weiß Klaus Schlimm bis heute nicht, in seiner Zeit jedenfalls wurden in dem Gebäude ausschließlich deutsche Schüler unterrichtet. Er hat den Unterricht als durchaus geregelt in Erinnerung, auch wenn Nebenfächer wie Religion und Biologie nicht mehr unterrichtet wurden.

Die Stimmung in Bad Podiebrad war zwar nicht allgemein schlecht, aber die Jungen empfanden die Evakuierung - vor allem als sich zeigte, dass sie nicht wie versprochen nach drei Monaten beendet wird - zunehmend als Zwangsmaßname. Stattdessen wird ihr Aufenthalt in der Fremde und somit weit entfernt vom Elternhaus immer wieder verlängert.

Als das Kriegsende unaufhaltsam nahte, befand sich Klaus gerade in einem weiteren Wehrertüchtigungslager im Bregenzer Wald. Dessen Leiter - „auch so ein abgehalfterter Parteimann und so ein Kriegsverletzter“ - teilte den Jungen mit, dass er mit Bauern und Unternehmern aus der Umgebung ausgehandelt hatte, dass sie bei ihnen unterkommen könnten. Als sie am nächsten Tag aufgeteilt wurden, kam Klaus mit zwei anderen Jungen ins örtliche Sägewerk. Aber schon zwei Tage nach seiner Einquartierung marschierten französische Truppen ein. Der fünfzehnjährige Klaus und seine Gefährten erlebten diese Besetzung ganz undramatisch und weitgehend ohne Angst. Gut gelaunt sahen sie zu, wie die Truppen der Sieger ohne feindselige oder aggressive Übergriffe einzogen. Keiner der Jugendlichen hatte zu diesem Zeitpunkt eine Vorstellung von der Zukunft. „Aber wir waren in einer großen Gelassenheit, es war herrliches Wetter, die Sonne schien, irgendwas gab es immer zu essen.“ Allerdings mussten sich die Jungen in dieser Zeit zunächst zwei Wochen lang ausschließlich mit trockenem Brot über Wasser halten. Als das Sägewerk dann aber am 8. Mai 1945, dem Tag der offiziellen deutschen Kapitulation, schloss, hieß es: „Wir haben keine Arbeit mehr für Euch, ihr müsst sehen, wo ihr bleibt“. Die drei Jungen zogen mit eher gemischten Gefühlen in die Berge Richtung Lechtal, da sie wussten, dass in Lech ihre Schule untergebracht war. Noch ein Vierteljahr blieb Klaus in Lech und verbrachte den Frühling auf dem Hof eines Bergbauern.

Im Juli 1945 trat Klaus schließlich die Heimreise an. Die gestaltete sich aber langwierig und schwierig, weil es oft Unterbrechungen gab und er häufig auch auf Güterzüge umsteigen musste. Nach sechs Tagen traf Klaus am 1. August 1945 dann wohlbehalten in Essen ein.

Quelle: Die Texte zur Veröffentlichung wurden freundlicherweise von den Organisatoren der Projektseite 'Jugend in Deutschland: 1918-1945' zur Verfügung gestellt: https://jugend1918-1945.de/portal/Jugend/zeitzeuge.aspx?bereich=projekt&root=5590&id=5590&redir=.

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