Belarus
Datum und Ereignis
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Kriegszeuge
An der Tür klebte ein Zettel:
„Wolik, mein Sohn. Heute früh war ich im Pionierlager. Aber du warst nicht mehr dort. Wir haben den ganzen Tag auf dich gewartet. Ich gehe mit Marik weg. Wir wissen selbst noch nicht wohin. Geh zu Tante Natascha. Sie ist eine gute Frau und wird dir helfen. Ich hoffe, der Krieg ist bald zu Ende und wir sehen uns wieder. Ich küsse dich. Mama.“
Ungefähr einen Monat lang lebte er allein in seiner Wohnung. Eines Tages traf er auf dem Heimweg vom Komarowski-Markt, auf dem er Kleidung gegen Brot tauschte, die sogenannte gute Tante Natascha. Sie verschaffte sich in Begleitung eines Polizisten Zugang zu seiner Wohnung. Wolodja kehrte nie mehr nach Hause zurück.
Wladimir Rubeschin (1929-2016), Belarus
Datum und Ereignis
Kriegszeuge
Plötzlich wurde es in unserem Haus irgendwie still. Am Abend kamen die Erwachsenen zusammen und diskutierten etwas in gedämpftem Ton. Ihre Gesichter waren ernst und sie sahen beunruhigt aus. Ab und zu hörten wir das Wort “Krieg”...
... Die Nachbarn begannen, ihre Häuser zu verlassen und aus der Stadt zu eilen. Wir machten uns auch bereit zu gehen. Papa setzte uns in den Wagen und wir schlossen uns den fliehenden Menschenmassen an... Bald erreichten wir Mamas Heimatstadt Smilowitschi. Dann gingen wir die staubige Straße entlang, dicht an die Mutter gekuschelt. Am schwersten war es für sie, die kleine einjährige Ljuba zu tragen. Deutsche Flugzeuge flogen über unsere Köpfe hinweg. Wir hörten die Geräusche der explodierenden Bomben, das Grollen der Granaten. Wir wurden von Autos und Karren überholt. Ich war nicht so sehr hungrig als durstig. Es wurde klar, dass wir nicht weit kommen würden. Wir kehrten nach Minsk zurück. Die Stadt war nicht wiederzuerkennen: Sie war in schwarzen Rauch gehüllt, und es herrschte Panik. Die Menschen plünderten Lagerhäuser, Geschäfte, Schaufenster...
Maja Isaakowna Krapina (1935 – 2018), Belarus
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Kriegszeuge
Am Ende dieses Tages gegen Abend verfolgten uns plötzlich russische Soldaten und riefen uns etwas zu. Wir begriffen nicht, was wir sollten, denn es war uns doch gesagt worden, wir könnten alle “nach Hause nach Mutter” gehen. Es wurde aber ernst. Die Russen schlugen uns mit Gewehrkolben ins Kreuz und riefen dabei: “Dawai, dawai”. Sie trieben uns auf eine große Wiese, wo schon sehr viele Menschen lagerten. Im ersten Moment dachte ich noch, es seien alles befreite Gefangene. Nein, dann erkannte ich, dass es wohl an die tausend oder noch mehr deutsche Soldaten waren, die zusammengetrieben worden waren und dort auf der Erde saßen. Wir waren in russischer Kriegsgefangenschaft!
Hermann Lohmann (*1925)
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Kriegszeuge
Heute wurde ich von Mutter mit einer schrecklichen Nachricht geweckt, dass ich zuerst glaubte, es sei ein schlechter Witz oder ein Trick um mich aus dem Bett zu holen. Aber es stimmte wirklich! Krieg! Krieg mit Russland!!! Diese Nachricht kam so unerwartet und ist so schrecklich, dass mir zuerst der Atem wegblieb. Jetzt am Abend kann ich es immer noch nicht fassen. Nie, nie hätte ich geglaubt, dass Russland gegen uns kämpfen würde. [...] Und Gustav ist mitten in der Scheiße drin. Mutter wird noch wahnsinnig wenn ihm etwas zustoßen sollte. Hoffentlich, hoffentlich passiert ihm nur ja nichts. Gott, beschütze meinen Bruder! [...] Wenn man es so bedenkt, auch paradox. Wir versuchten uns zu amüsieren - ich konnte es nicht richtig, denn ich musste immer an Gustav denken - und im Osten schießen sie sich gegenseitig tot. Um 9 Uhr war ich wieder zu Hause. Mutter kam erst um halb elf von Köln zurück, wo sie bei ihren Kusinen war. Nachts war Fliegeralarm. [...]
Günther Roos (*1924)
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Kriegszeuge
Als der Krieg begann, flogen deutsche Flugzeuge über Warschau und bombardierten es. Die Bombardierung dauerte so zwischen drei und fünf Stunden. Während dieser Zeit war ich mit meiner ganzen Familie im Keller, außer meinem Vater, der zum Kämpfen gegangen war. Wir blieben ganze Nächte oder Tage im Keller. Wenn uns das Essen ausging, bin ich mit meinen älteren Freunden losgezogen, um Essen aus zerstörten Läden zu holen - das war alles, was wir tun konnten...
Janusz Tarnowski (6. Klasse) aus Polen
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Kriegszeuge
Dort ist eine Barrikade aus Steinplatten. Ich überquere sie, um zum Marktplatz zu gelangen. In der Nowomiejska-Straße vor dem Haus Nummer 11 steht eine Christusfigur, die aus einer Nische in der Hauswand gefallen ist. ...
Ich krieche auf allen Vieren über die Trümmer der Wohnung. Ich erkenne das ausgebrannte Fenster und die Reste des Kachelofens. Den Himmel über meinem Kopf. Ich habe Tränen in den Augen. Wo ist mein Hausaufgabentisch, wo sind die Bücher? Wo ist die Kiste mit den weißen Mäusen? Ich kann bis in den Keller sehen. Ich erkenne das Skelett des ausgebrannten Kinderwagens meiner Nichte. Blumengeschmückte Teller, alle zertrümmert; Töpfe ...
Das ist alles, was von der ganzen Wohnung übrig ist.
Ich befestige einen Zettel an der Wand: „Die Chmielewskis leben; ihre Adresse ist ...”
Excerpt from Henryk Chmielewski (born 1923) from Poland
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Kriegszeuge
Es ist ein sehr klarer, ruhiger, taufrischer Morgen. Es kommen Gäste, und wir gehen mit ihnen weit in den Wald hinein, wo sie noch nie waren. Der Vermieter sagt, im Herbst gibt es dort Unmengen von Pilzen. Wenn es doch auch im Herbst Ferien gäbe! Über unseren Spaziergang schreibe ich morgen. Ich habe es eilig, wir müssen bald los und sie am Bahnhof treffen ... Wir haben sie nicht getroffen. Es kam niemand, und im Radio am Bahnhof hörten wir die schreckliche Nachricht - Deutschland ist einmarschiert ...
Ewgenija Wadimowna Schawrowa (1928 – 1991), Russland
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9. Mai. Heute hatten wir keinen Unterricht. Wir kamen in der Schule an und gingen organisiert zur Bildungsabteilung am Newski, von wo aus die Prozession startete. Alle, Freunde und Fremde, tauschten gute Wünsche aus. Antonina Iwanowna, unsere Schulleiterin, weinte die ganze Zeit (ihr Mann war gestorben), hielt aber trotzdem gut durch. Unsere Schule ist in sicheren Händen. Am Abend feierten die Menschen auf dem Schlossplatz. Scheinwerfer beleuchteten die Wände der Gebäude von allen Seiten. Der Film “Die Befreiung Frankreichs”, der gerade in die Kinos gekommen war, wurde gezeigt. Auf der Bühne am Fuße der Alexandersäule traten wieder einmal Tänzer auf - unverzichtbare Teilnehmer an allen wichtigen Ereignissen im Leben unserer Stadt. Trotz der Tatsache, dass es eine riesige Menschenansammlung gab, herrschte auf dem Platz absolute Ordnung. Wir kehrten spät zurück und spazierten noch lange durch die ruhigen Straßen - aber richtig ruhig wurden sie an diesem Tag wohl erst am Morgen...
Ewgenija Wadimowna Schawrowa (1928 – 1991), Russland